Igel in Deutschland: Das leise Verschwinden

Der Igel ist eines der ältesten Säugetiere unserer Erde. In Deutschland steht das Wildtier des Jahres 2024 heute jedoch auf der Vorwarnliste der bedrohten Tierarten. Über lautloses Leiden und unermüdlichen Tierschutz.

Von Marina Weishaupt
Veröffentlicht am 12. Apr. 2024, 15:50 MESZ
Ein zusammengerollter Igel in der Hand einer Tierschützerin.

Ein Igel, der für Laien auf den ersten Blick wohl genährt erscheint: Tatsächlich hat dieses Männchen eine eher schlanke Statur und muss noch deutlich an Gewicht zulegen.

Foto von Marina Weishaupt

Der Frühling ist da. Für viele Gartenbesitzer*innen heißt das: Rasentrimmer und Heckenschere raus. Wiesen und Beete sollen fit gemacht werden für die Menschen, die sich darin aufhalten wollen. Für Igel bedeutet das Hobbygärtnern oft ein sprichwörtlich böses Erwachen: Sie sind nachtaktiv und liegen tagsüber unter Hecken, Gebüschen, Reisighaufen oder in selbst gegrabenen Erdlöchern – an warmen Tagen zur Abkühlung gerne mit ausgestreckten Gliedmaßen. Wenn es schlecht läuft, wird der schlafende Igel zu spät bemerkt und schwer verletzt.

Dann klingelt meist kurze Zeit später das Telefon von Doris Kast. Die erste Vorsitzende des Igelhilfeverein e.V. im Landkreis Neu-Ulm ist rund um die Uhr mit dem Igelschutz beschäftigt. Vor acht Jahren begann alles mit einem kleinen, stacheligen Findelkind. 2022 kam es schließlich zur Vereinsgründung. Mittlerweile bestens vernetzt, vermitteln sie und ihre Kolleginnen Igel in Not an helfende Hände – vom Bodensee bis Schwaben. Als Erstaufnahmestelle kümmert sie sich um die besonders schweren Fälle selbst.

Und die häufen sich immer mehr. Eigentlich steht der Braunbrustigel (Erinaceus europaeus) hierzulande zwar unter Artenschutz. Trotzdem geht es ihm immer schlechter. Aktuell gilt das Wildtier des Jahres 2024 laut der Roten Liste der Säugetiere Deutschlands noch nicht als gefährdet. Jedoch steht es auf der Vorwarnliste und könnte diesen traurigen Status in naher Zukunft erreichen – wenn der Igel-Schutz nicht schnellstens an Bedeutung gewinnt.

Links: Oben:

Eine letzte Untersuchung, bevor es nach dem geschützten Winterschlaf wieder in die Freiheit geht.

Rechts: Unten:

Doris Kast blickt diesem Moment stets mit einem traurigen und zugleich freudigen Auge entgegen.

bilder von Marina Weishaupt

Auch an diesem regnerischen Frühlingstag untersucht Doris Kast im Garten von Berit Knorr, der Schriftführerin des Vereins, ein Igelmännchen, das nach einer letzten Wurmkur bald wieder in sein gewohntes Revier ziehen darf. Zwar ist es heute recht kühl, dennoch bangt es den beiden schon vor den warmen, frühsommerlichen Temperaturen. Dann müssen sie nicht lange warten: an Schönwetter-Wochenenden melden sich zu Hochzeiten rund 100 Menschen – pro Tag.

„Igel leiden leise“: Von fehlenden Nasen, Gliedmaßen und Stacheln

Das, was die Frauen daraufhin zu Gesicht bekommen, ist meist nichts für schwache Nerven. Doris Kast zeigt Fotos von skalpierten Igeln, tiefen Schnittverletzungen an Schnauze, dem gesamten Gesicht oder fehlenden Gliedmaßen. Ursache für das Leid sind in vielen Fällen Gartenwerkzeuge wie Rasentrimmer und -mäher. „Den meisten Menschen tut das dann unglaublich leid“, sagt Berit Knorr. Doch ob händisch oder automatisiert mittels Mähroboter – die Gefahr für Wildtiere wie den Igel wird laut ihr schlichtweg einfach unterschätzt. „Sobald die Schutzzeit für Vögel vorbei ist, wird im Garten gewerkelt – ohne Rücksicht auf darin schlafende Igel“, sagt Doris Kast.

Ein weiteres Beispiel hierfür: Schwere Verätzungen durch Rasendünger mit zugeführten Unkraut- oder Moosvernichtern. „Kinder und Haustiere werden dann einige Tage davon ferngehalten, aber der Igel weiß natürlich nichts davon“, sagt Berit Knorr. Andere Aufnahmen auf Doris Kasts Handy zeigen schlimmsten Milbenbefall und den daraus resultierenden Verlust von Fell und Stacheln. Ebenfalls dokumentiert: Angriffe von Hunden. Nicht allen derart schwer verletzten Igeln kann geholfen werden. Kast und Knorr gehen der Igelhilfe zwar leidenschaftlich nach, aber der Job setzt ihnen aufgrund der Fülle an übel zugerichteten Schützlingen auch selbst zu. Nicht zuletzt, weil ihre Hilfe immer häufiger in Anspruch genommen wird.

Milde Winter: Spätgeburten, unzureichender Winterschlaf und mageres Nahrungsangebot

An diesem Tag im April liegen in Berit Knorrs Keller noch zwölf Igel im Winterschlaf. Im Idealfall halten Igel diesen je nach Geschlecht und Alter etwa von Oktober oder November bis in den April hinein. Durch den Klimawandel gestaltet sich der Ruhezustand jedoch nicht mehr so, wie die Natur ihn einst perfektionierte. Während des Gesprächs am Nachmittag klingelt Doris Kasts Telefon mehrmals, innerhalb zweier Stunden nimmt sie zwei geschwächte Igel auf. Keine Einzelfälle – so laufe das bereits schon seit Monaten ab. „Viele Igel sind schon geschwächt in den Winterschlaf gegangen“, sagt Doris Kast. Eine erholsame Winterpause haben sie und ihre Schützlinge kaum mehr. „Dieses Jahr war es besonders schlimm“, sagt Berit Knorr.

Denn in der Natur käme immer mehr durcheinander, meint Doris Kast. Unter normalen Umständen würden Igel spätestens in den September hinein geboren. Mittlerweile erhalten sie den Winter über winzig kleine Igel, die aufgrund ihrer geringen Größe und ihres Gewichts teilweise im Dezember geboren sein müssen. Doch nicht nur den kleinsten Igeln macht der Klimawandel zu schaffen – viele Muttertiere sind ausgemergelt, Alt-Igel, also Tiere ab etwa drei Jahren, haben ebenfalls schwer zu kämpfen.

„Die meisten Alt-Igel, die wir nach dem Winterschlaf im Frühling aufnehmen müssen, sind wirklich furchtbar dünn“, sagt Kast. Ebenfalls ein Anzeichen für zu milde Winter. Herzschlag, Körpertemperatur oder Atemfrequenz werden eigentlich bei Temperaturen unter fünf Grad auf ein Minimum reduziert. Zu hohe Temperaturen oder sich ständig ändernde Wetterverhältnisse zwingen die kleinen Körper ihre Stoffwechselvorgänge immer wieder anzukurbeln – und überlebenswichtige Reserven aufzubrauchen.

BELIEBT

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    „Ich habe wirklich Angst vor der Zukunft. Es wird immer mehr Arbeit für uns, der Igel wird immer kränker“, sagt Doris Kast. Damit spielt sie unter anderem auf vermehrte Probleme mit dem Zahnapparat an. „Die Zahnproblematik wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Durch die fehlenden Käfer und die damit einhergehende Mangelernährung verlieren viele Igel ihre Zähne, spätestens in der Zahnsanierung“, sagt Kast. Eigentlich hat die Natur auch hierfür vorgesorgt – Berit Knorr ergänzt: „Das in den Käfern enthaltene Chitin hat eine antiseptische Wirkung. Wenn die Igel das kauen, stärkt das die Zähne automatisch“. Eigentlich. Denn mittlerweile müssen sie vielen Igeln einen Großteil ihres wichtigsten Werkzeugs entfernen lassen – und folglich dauerhaft zufüttern.

    Unsichere Zukunft für Igel: „Niemand fühlt sich verantwortlich.“

    Die Liste an Gefahren, mit denen der Igel zu kämpfen haben, ist lang. Man könnte davon ausgehen, derartige Zustände würden für Aufruhr sorgen – steht das Wildtier doch unter Artenschutz. Doch seitens Politik, Stadtverwaltung oder Kommunen bleibt es verhältnismäßig ruhig. Berit Knorr hat sich im Laufe der Zeit an vielerlei Stellen und Zuständige gewandt, nach Hilfe oder Unterstützung für ihre wichtige Arbeit geboten. Doch verantwortlich scheint sich niemand zu fühlen.

    Als Ergebnis kommen Hilfestellen an ihre Grenzen. Doris Kast weiß selbst am besten, wie zermürbend die zeitintensive und emotional belastende Arbeit sein kann. Rund 1.000 Igel nahm sie 2023 als Erstversorgerin auf, der Verein inklusive allen Außenstellen versorgte circa 2.500 Igel. In den letzten Jahren beobachtete sie, wie einige Ehrenamtliche die Arbeit aufgaben – sei es aus psychischen, körperlichen oder finanziellen Gründen.

    Dass Igel in diesem Jahr Wildtier des Jahres sind, sei ein guter Schritt: „Auch, wenn mehr Bekanntheit im Umkehrschluss wieder zu mehr Igeln zur Pflege führt. Aber was dem Igel hilft, hilft wiederum den Insekten und den Vögeln“, sagt Berit Knorr. Das alles gehöre im Natur- und Artenschutz zusammen. Das Jahr des Igels mache dem Verein etwas Hoffnung auf mehr Wertschätzung, Aufmerksamkeit – und Mithilfe.

    Erste Hilfe: Wie erkenne ich einen hilfsbedürftigen Igel?

    Tagaktivität, ein schwankender Gang, starker Husten oder ein scheinbares „Bad in der Sonne“: Neben offensichtlichen Verletzungen sind derartige Verhaltensweisen Anzeichen dafür, dass ein Igel dringlichste Hilfe benötigt. Bei einem genaueren Blick sind kranke und geschwächte Tiere meist stark von Milben, Fliegeneiern oder sogar Maden befallen, haben einen sogenannten Hungerknick, eine schmale Körperform und allgemein schlicht ein schlechtes Erscheinungsbild.

    Ein Igel mit deutlich sichtbarem „Hungerknick“ – einer Einkerbung zwischen Kopf und Rumpf. Seine Tagaktivität spricht zudem dafür, dass er lebensbedrohlich erkrankt und hilfsbedürftig ist.

    Foto von Karin Jähne / Adobe Stock

    Wichtig ist laut Doris Kast, dass ein schmaler, ausgehungerter Igel auf keinen Fall auf eigene Faust gefüttert werden darf. Stattdessen sollte stets die Hilfe von erfahrenen Ehrenamtlichen gesucht werden. „Der Darm hat sich verändert. Ein Igel mit Hungerdarm kollabiert bei zu viel Futter – 95 Prozent davon sterben“, sagt Kast. Vor allem wenn ein Igel noch „kalt“ ist, also seine normale Körpertemperatur noch nicht wieder erreicht hat, habe dies vor dem Füttern erste Priorität.

    Zudem erkennen Laien säugende Muttertiere auf den ersten Blick kaum, doch meist sind ihre Würfe nicht weit. „Wir können die Mutter nicht ersetzen“ – deshalb sucht Doris Kast dann unerbittlich, teils über Stunden und mittels Wärmebildkamera. Nicht selten kommt es während und nach der Wurfzeit zu mehreren dieser Einsätze pro Tag.

    Nichts einfacher als das: Igelschutz im eigenen Garten

    „Wir sind auf die Gartenbesitzer*innen angewiesen. Wenn alle nur ein bisschen was verändern, dann ist auch uns geholfen“, sagt Doris Kast. Für die Gartenpflege gelte: Weniger ist mehr. Wer nicht seinen gesamten Garten naturnah gestalten möchte, kann selbst mit kleinen, igelfreundlichen Ecken großes bewirken. Reisig- oder Laubhaufen dienen nicht nur als Versteck, sondern auch als hervorragende Nahrungsquelle – sammeln sich darunter auch Insekten wie Laufkäfer gerne an. Wer zusätzliche Hilfe leisten möchte, kann mit eigens für den Igel ausgelegten Futterhäuschen inklusive nahrhaftem Futter das ganze Jahr über aushelfen.

    “Man kann die Natur und alles, was dazu gehört, nicht einfach ausschließen.”

    von Berit Knorr
    Schriftführerin Igelhilfeverein e.V.

    Obwohl ein Igel standorttreu ist, durchstreift er während seiner Nahrungssuche ein größeres Gebiet. Damit dies gelingt, sollten Gartenzäune stets Öffnungen vorweisen. Moderne, mit Steinen gefüllte Metallzäune oder bodentiefe Sichtschutzzäune stellen laut Kast und Knorr nicht nur unüberwindbare Hindernisse, sondern teils sogar eine Gefahr dar. Zudem sollten Mähroboter in der Dämmerung und nachts unbedingt ausgeschaltet bleiben, Hecken und Gebüsch vor etwaigen Rodungs- oder Schneidearbeiten unbedingt sorgfältig abgesucht werden.

    „Auch wenn man seinen Garten liebt und bestimmte Vorstellungen hat, sollte man eins nie vergessen”, sagt Knorr, „er ist ein Stück Natur, das nicht nur einem selbst gehört – sondern auch den vielen Insekten und Tieren, die ihn als Lebensraum brauchen.” Wer das bedenke, helfe schon enorm.

     

     

    Themenmonat im April: our HOME auf National Geographic
    Wir haben nur eine Erde. Zeit, unser Zuhause wertzuschätzen und noch mehr zu schützen: Unter dem Motto our HOME stellt National Geographic zum Earth Month im April 2024 besondere Geschichten und Projekte aus Deutschland vor – rund um Naturschutz sowie kulturelles Erbe und biologische Vielfalt. Weitere spannende Einblicke gibt es hier.

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