Seismometer zeichnen „Klang der Stille“ während der Pandemie auf

Die Myriaden winziger Beben des menschlichen Alltags sind verstummt – und in der Stille können Seismologen nun dem Klang des Planeten lauschen.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 17. Apr. 2020, 16:32 MESZ

Menschen machen eine Menge Lärm. Autos rattern über Straßen, Flugzeuge tosen am Himmel, Füße trappeln auf Gehwegen. All diese Dinge erzeugen zahllose winzige Vibrationen im Boden. Ein globales Netzwerk aus Seismometern zeichnet diese Oszillationen unentwegt auf. Aber seit die Regierungen ihre Bürger angehalten haben, zu Hause zu bleiben, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, ist das Hintergrundrauschen des täglichen Lebens verstummt.

Kurze Ruhepausen in der seismischen Aktivität gab es schon früher. Aber COVID-19 hat für eine längere Stille in den bewohnten Gebieten der Erde gesorgt. Seismometer auf mehreren Kontinenten zeichnen das Schweigen auf.

„Wir Seismologen sehen euch“, sagt Thomas Lecocq, ein Geologe des Royal Observatory in Belgien.

Einer der Vorteile des verstummten Hintergrundlärms: Wissenschaftler könnten nun solche Phänomene besser untersuchen, die manchmal im Lärm des Alltags untergehen.

Das laute Schweigen der Welt

Lecocq analysierte zunächst Daten aus seiner Heimatstadt Brüssel, um seinen Freunden und seiner Familie zu zeigen, welche seismischen Auswirkungen die Ausgangsbeschränkungen haben. Seine Daten postete er auf Twitter, wo andere User bereits ähnliche Muster bemerkt hatten. Das Diagramm weckte das Interesse von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt, die anfingen, die verringerte Aktivität an vielen weiteren Orten zu messen: von Städten in der Schweiz, Spanien, Italien und Großbritannien bis zu China, Nepal, den USA, Neuseeland und darüber hinaus.

Diese Woche schrieb er auf Twitter, dass das Phänomen wahrscheinlich beispiellos sei: „Ich glaube, das ist das erste Mal, dass so etwas im globalen Maßstab passiert ist.“

Obwohl Forscher einen deutlichen Abfall der menschlichen Aktivität bemerkt haben, lassen sich Schlussfolgerungen über die Effektivität des Social Distancing schwerlich allein anhand seismischer Daten ziehen, so Lecocq. Das Ausmaß der Lärmabnahme hängt von vielen Faktoren ab, darunter Bevölkerungsdichte und industrielle Aktivität. Selbst der Standort eines Seismometers innerhalb einer Stadt kann das Ausmaß der Stille beeinflussen. In Brüssel ist die seismische Aktivität seit Beginn des COVID-19-Ausbruchs um 30 bis 50 Prozent niedriger als im Durchschnitt. Ähnliche Werte gibt es sonst während der christlichen Feiertage. In Nepal verzeichneten Seismometer in manchen Städten sogar einen Rückgang von 80 Prozent.

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    *Maßnahmen beinhalten Reise- und Ausgangsbeschränkungen, Schließung von allen Geschäften außer solchen für die Grundversorgung & landesweite Ausgangssperren. 

    Foto von TAYLOR MAGGIACOMO AND MAYA WEI-HAAS, NG STAFF. QUELLE: TIM CLEMENTS, HARVARD UNIVERSITY

    Die Beobachtungen, die aus reiner Neugier begannen, könnten sich für die seismologische Forschung als wertvoll erweisen. „Wenn das Hintergrundrauschen abnimmt, ist das genauso, als wäre man in einem stilleren Raum“, sagt die Umweltseismologin Celeste Labedz, eine Doktorandin am California Institute of Technology. „Wir können dann mehr Geräusche hören.“

    Die größere Stille während der Ausgangsbeschränkungen könnte es Seismologen ermöglichen, schwache oder weit entfernte Erdbeben aufzuzeichnen, die ihnen sonst entgangen wären. Die Stille könnte ihnen auch dabei helfen, die natürlichen Klänge unseres Planeten zu erforschen, beispielsweise das Rauschen der Flüsse, das in einen ähnlichen Frequenzbereich fällt wie menschliche Aktivitäten, sagt Labedz.

    Ein Team von Wissenschaftlern befasst sich mit dem Rückgang des Hintergrundrauschen selbst. Sie untersuchen den seismischen Lärm, der von einem Glasfasernetz unter dem kalifornischen Palo Alto aufgezeichnet wird. Im Gegensatz zu Seismometern, die jeweils nur die Aktivität an ihrem eigenen Standort aufzeichnen, kann ein Glasfasernetz den Geräuschpegel an hunderten von Standorten messen, sagte der Seismologe Nate Lindsey von der Stanford University, der diese Veränderungen analysiert.

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    Eine der vorläufigen Schlussfolgerungen der Analyse: Lindsey und seine Kollegen fanden heraus, dass selbst bei einer Abnahme des Verkehrsaufkommens auf der Autobahn der Lärm rund um ein lokales Krankenhaus gleichblieb. Die Daten aus dem Glasfasernetz sind so präzise, dass die Forscher sogar einzelne Autos ausmachen können, die vorbeifahren. Eine so kleinteilige Verkehrsanalyse könnte den Behörden in Zukunft dabei helfen, die Bewegungen von Menschen während Krisen nachzuvollziehen, sagt der Stanford-Seismologe Siyuan Yuan, der mit Lindsey zusammenarbeitet.

    Am 1. April startete Lecocq einen Aufruf an andere Forscher: Er bat um Hilfe, um die Massen an seismischen Daten für eine Studie zusammenzutragen und zu sortieren. Binnen zwei Tagen konnte er 26 Freiwillige rekrutieren. Die Studie wird anderen Forschern ein Werkzeug an die Hand geben, um die beispiellose globale Stille schnell und einfach zu analysieren.

    Für Seismologen ist diese Arbeit eine willkommene Ablenkung von der Ungewissheit der Pandemie. „Uns allen geht gerade ziemlich viel durch den Kopf, darum ist es ganz schön, dass in unserem Berufsfeld etwas passiert, mit dem wir uns jetzt befassen können“, sagt Labedz. „So können wir uns auf eine positive und hilfreiche Art und Weise beschäftigen.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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