Psychologie: Wieso Menschen Risiken unterschiedlich einschätzen

Wie Menschen ein Risiko bewerten, beeinflusst nicht nur ihr eigenes Leben. In einer weltweiten Pandemie kann unser Umgang mit Gefahr Konsequenzen für die ganze Bevölkerung haben.

Von Jillian Kramer
Veröffentlicht am 4. Aug. 2021, 11:31 MESZ
Menschen beurteilen Gefahren unter Berücksichtigung vieler verschiedener psychologischer Faktoren. Dies hat auch einen Effekt auf unseren ...

Menschen beurteilen Gefahren unter Berücksichtigung vieler verschiedener psychologischer Faktoren. Dies hat auch einen Effekt auf unseren Umgang mit der COVID-19-Pandemie.

Foto von Scott Camazine, Science Source

Maskenpflicht, Impfungen, Mindestabstand, Tests: In Bezug auf die Gefahr, die von COVID-19 ausgeht, gilt das Mantra der Vorsicht, zumindest von offizieller Seite. Doch dieses auch zu befolgen, ist eine Entscheidung, die jeder Mensch jeden Tag für sich persönlich treffen muss.

Seit Beginn der Pandemie sind wir gezwungen, Risiken gegeneinander abzuwägen. Die Ergebnisse, zu denen wir dabei kommen, unterscheiden sich oft stark voneinander. Das Auftauchen immer neuer Varianten von COVID-19, sich ändernde Verordnungen, die Rückkehr zum Präsenzunterricht, die Reisefreiheit – all das zwingt uns dazu, die Gefahr ständig neu zu bewerten und daran wird sich in absehbarer Zukunft vermutlich nichts ändern. Die Entscheidung, wie man sich verhält, was man tut oder lieber lässt, ist und bleibt jedem Einzelnen selbst überlassen – mit allen Konsequenzen.

In einer Welt, die vor offensichtlichen und versteckten Bedrohungen nur so wimmelt, werden Gefahren oft falsch eingeschätzt, ignoriert oder wegargumentiert. „Gefahren werden nicht nur von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich wahrgenommen – jedes Individuum reagiert auch von Gefahr zu Gefahr anders“, sagt Paul Slovic, Psychologe und Gründer der Non-Profit-Organisation Decision Science Research Institute in Oregon.

Wie Angst die Evolution des Menschen prägte
Angst und Furcht mögen nicht angenehm sein, aber beides sind wichtige Emotionen, die die menschliche Evolution prägten. Unser Gehirn reagiert auf Bedrohungen und bereitet unseren Körper auf das vor, was da kommen könnte – so wie wir es vor Hunderttausenden von Jahren gelernt haben. Aber wie sieht die Wissenschaft hinter dieser angeborenen Reaktion aus und wie gehen wir in der modernen Welt damit um?

Die Abwägung, ob etwas riskant ist oder nicht, ist laut Valerie Reyna, Co-Direktorin des Center for Behavioral Economics and Decision Research an der Cornell University, eine permanente kognitive Herausforderung. „Wenn etwas unsicher ist oder erst noch passieren wird, bleibt uns nur unsere persönliche Einschätzung. Mit der Zeit und mit sich ändernden Umständen muss sie angepasst werden. Das macht die Sache wirklich schwer“, sagt sie.

Wir haben Experten gebeten, zu erklären, warum der Mensch solche Schwierigkeiten damit hat, Risiken einzuschätzen, wie das Gehirn auf Risiken reagiert und wie sich die Notwendigkeit Risiken abzuwägen im Laufe der Pandemie verändert hat.

Schnell, einfach, intuitiv: Das Bauchgefühl

Laut manchen Wissenschaftlern stehen dem Menschen zwei verschiedene Arten der Risikobeurteilung zur Verfügung: Entweder wird eine Situation reflexartig und emotional bewertet – man spricht hier von intuitivem Denken – oder langsam und analytisch. „Meistens reagieren wir intuitiv“, sagt Paul Slovic. Zwar seien alle Menschen zu beiden Methoden fähig, „aber das menschliche Gehirn ist faul. Die emotionale Antwort auf eine komplexe Situation ist der leichtere Weg, also wählt es bevorzugt diesen.“

Das muss nicht immer schlecht sein. Der analytische Modus ist sehr viel umständlicher und nimmt mehr Zeit in Anspruch, „Vernunft, Mathematik und Kosten-Nutzen-Rechnungen spielen eine Rolle“, so Paul Slovic. Diese Art des Denkens ist „wichtig und mächtig, aber sehr schwer umzusetzen.“ Menschen wurden im Laufe der Evolution zu Wesen, die Risiken schnell abwägen. Wenn man bemerkt, dass sich ein Löwe anpirscht, ist es schließlich nicht klug zu lange zu überlegen, ob man vor ihm wegrennen oder gegen ihn kämpfen soll.

„Möchte man wissen, wie es sich anfühlt gründlich nachzudenken, sollte man versuchen, die Quadratwurzel von 285 im Kopf auszurechnen“, erklärt Ralf Schmälzle, Neurowissenschaftler an der Michigan State University. Nachdenken nimmt einen riesigen Teil unseres Arbeitsspeichers in Anspruch, Intuition hingegen liefert ohne großen Aufwand eine Sofortlösung.

Meistens funktioniert das auch. „Indem wir auf unsere Intuition vertrauen überleben wir“, sagt Paul Slovic. „Zieht man in Betracht, wie komplex diese gefährliche Welt ist, schlagen wir uns eigentlich ganz gut. Manchmal läuft es aber auch schief.“

BELIEBT

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    Ralf Schmälzle führte mit Kollegen von der Universität Konstanz im Jahr 2013 eine Studie durch, in deren Rahmen die Gefahrenwahrnehmung der Probanden in Bezug auf eine andere virale Bedrohung untersucht werden sollte: den Influenza-A-Virus H1N1, die sogenannte Schweinegrippe. Zunächst wurden 130 Teilnehmern eine Reihe risikobezogener Fragen gestellt. Basierend auf ihren Antworten, wurden sie in zwei Gruppen aufgeteilt: die Probanden der einen nahmen H1N1 als Gefahr wahr, die der anderen nicht.

    Im nächsten Schritt wurde den Teilnehmern eine faktenbasierte Reportage über die Schweinegrippe gezeigt und währenddessen ihre Gehirnaktivität mittels Magnetresonanztomographie (MRI) gemessen. Die Wissenschaftler stellten fest, dass der anteriore cinguläre Cortex, der oft mit der Verarbeitung von Gefahren in Verbindung gebracht wird, bei den Testpersonen, die wegen H1N1 bereits besorgt waren, besonders aktiv war.

    „Was die Leute in diesem Moment wahrnehmen, ist ein intuitives Alarmsignal“, erklärt Ralf Schmälzle. Ihm zufolge ist dieses von Emotionen gesteuert.

    Die Ergebnisse der Studie lassen sich auf das Verhalten der Menschen in der COVID-19-Pandemie übertragen. „Jemand, dem diese intuitive Art der Risikowahrnehmung fehlt, wird nicht einsehen, warum er eine Maske tragen oder sich impfen lassen soll“, erklärt Paul Slovic.

    Angst, Optimismus und Hoffnung

    Valerie Reyna von der Cornell University sagt, dass die These, dass Menschen dieses duale System zur Risikoanalyse nutzen, „eine exzellente Theorie ist, die durch viele Daten gestützt wird“. Es würden dabei aber andere wichtige Faktoren des Entscheidungsprozesses völlig außer Acht gelassen.

    Laut Marie Helweg-Larsen, Sozialpsychologin am Dickinson College in Pennsylvania, ist optimism bias, also die optimistische Verzerrung, einer davon. Tendiert ein Mensch dazu, hat er das Gefühl, dass ihn potentielle Konsequenzen aus irgendeinem Grund nicht betreffen. „Wir nehmen die Bedrohung zwar wahr“, erklärt sie, „doch wir halten uns für etwas Besonderes. Wir glauben nicht, dass wir negative Konsequenzen zu spüren bekommen werden.“

    Raucher sind sich zum Beispiel meist darüber im Klaren, dass sie ihrer Gesundheit schaden. Trotzdem gibt es manche unter ihnen, die denken, dass ihr persönliches Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, nur gering ist. „Sie glauben, dass sie die negativen Konsequenzen des Rauchens vermeiden können, indem sie mehr Gemüse essen, nicht so oft an der Zigarette ziehen oder sich für gesündere Zigaretten entscheiden“, erklärt Marie Helweg-Larsen. „Aber wenn man Gemüse isst, bedeutet nicht das nicht, dass man keinen Lungenkrebs bekommt.“

    “Zieht man in Betracht, wie komplex diese gefährliche Welt ist, schlagen wir uns eigentlich ganz gut. ”

    von Paul Slovic, Decision Science Research Institute in Oregon

    Dieselbe Verzerrung könnte eine Rolle bei der Einschätzung des persönlichen COVID-19-Risikos spielen. Menschen, die keine Masken tragen wollen, sind sich höchstwahrscheinlich der Gefahr der Ansteckung - und auch des Todes - bewusst. Laut Marie Helweg-Larsen denken sie aber, dass ihr individuelles Risiko kleiner ist als das anderer Leute.

    „Diese Menschen verrückt zu nennen, ist zu kurz gegriffen“, sagt sie, sie hätten vielmehr eine rosarote Brille auf. „In der Psychologie bezeichnen wir das als motivational cognition. Das bedeutet, dass wir so schlussfolgern, dass wir zu dem Ergebnis kommen, das wir uns wünschen.“

    Weil viele Dinge, die Menschen tun, risikobehaftet sind, ist Optimismus durchaus hilfreich und wichtig. Hätten wir jedes Mal, wenn wir in ein Auto steigen, Angst, bei einem Unfall zu sterben, wären die Straßen leer. „Man käme nur sehr schwer durch den Tag, wenn man in ständiger Furcht vor all den winzigen möglichen Gefahren leben würde, denen wir ständig ausgesetzt sind“, sagt Marie Helweg-Larsen.

    Laut Paul Slovic ist ein anderer großer Faktor, der Menschen beim Eingehen oder Vermeiden von Risiken beeinflusst, das Gefühl, das die Aussicht auf mögliche Konsequenzen in ihnen auslöst – sei es Angst oder Hoffnung. Die Aussicht auf den Gewinn eines 100 Millionen Euro-Jackpot kann uns dazu bewegen, das Risiko einzugehen, mit dem Kauf des Loses Geld zu verlieren. In gleicher Weise kann die Nachricht von einem Flugzeugabsturz in manchen Menschen Angst vor dem Fliegen auslösen, obwohl dieses Transportmittel statistisch gesehen sicherer ist als das Auto.

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    Das Gefühl von Kontrolle oder Kontrollverlust wirke sich in Bezug auf Gefahren ebenso auf das Urteilsvermögen eines Menschen aus, sagt Helweg-Larsen. „Wir überschätzen oft unseren Einfluss auf das finale Ergebnis.“ Menschen mit Flugangst schätzen das Risiko eines Absturzes oft auch deswegen höher ein, weil sie nicht selbst am Steuer sitzen.

    „Es geht nicht darum, ob jemand überhaupt dazu in der Lage ist, ein Flugzeug zu fliegen, sondern um das Gefühl von Unsicherheit, weil man nicht die Kontrolle hat“, erklärt sie. „Natürlich ist das alles eine Illusion. Viele Unfälle passieren nicht, weil der Fahrer des Wagens Schuld ist, sondern aufgrund von anderen Faktoren.“

    In der Pandemie „haben einige Leute Angst davor bekommen, sich in einer Welt zu bewegen, in der ihr eigenes Wohl davon abhängt, dass andere Menschen das Richtige zu tun“, sagt Helweg-Larsen. „Weil wir nach Kontrolle streben, fühlt sich das sehr unheimlich an.“

    Natürlich hat auch der direkte Kontakt mit der Bedrohung einen Einfluss auf das Verhalten. Eine Studie der University of Alabama hat gezeigt, dass Menschen, die an COVID-19 erkrankt waren und wieder genesen sind, hinterher Vorsichtsmaßnahmen wie das Tragen von Masken und Abstandregeln weniger unterstützt haben als Menschen, die nicht infiziert waren. Im Vergleich dazu gibt es jedoch viele Unterstützer der Maßnahmen unter denen, die einen Infektionsfall in der Familie oder im Freundeskreis hatten.

    Wanyun Shao, Co-Autorin der Studie und Assistenzprofessorin für Geografie an der University of Alabama, vermutet, dass die Horroszenarien der anderen in uns Besorgnis auslösen. „Doch die individuelle Erfahrung mit COVID-19 am eigenen Leib kann diese Besorgnis in Luft auflösen – als wäre die Ungewissheit vorbei.“

    Kein Tag ohne Entscheidung

    Um in der fortschreitenden Pandemie Risiken besser abzuschätzen, gibt es laut den Forschern gute Strategien. Das Wichtigste sei, mithilfe von glaubwürdigen Quellen über die wissenschaftlichen Entwicklungen auf dem Laufenden zu bleiben. „Wenn man zu den Menschen gehört, die auf die Wissenschaft vertrauen, sollte man das gerade jetzt unbedingt beibehalten“, sagt Marie Helweg-Larsen.

    Außerdem ist es wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass intuitionsbasierte Urteile oft in Bruchteilen einer Sekunde getroffen werden, dass aber nicht jede Situation eine so schnelle Reaktion erfordert. „Stattdessen ist es klug, nichts zu überstürzen, sondern lieber einen Schritt zurück zu treten und die neuen Informationen angemessen zu reflektieren“, so Paul Slovic.

    Im Juli 2021 steht das langersehnte Ende der Pandemie scheinbar auf der Kippe. Stimmen werden laut, die sagen, dass die Gesellschaft sich nicht weiter darauf verlassen kann, dass Individuen in Bezug auf die Risiken von COVID-19 die sichersten, klügsten Entscheidungen treffen. Der Fortschritt der Impfkampagne stagniert, die Fallzahlen steigen, die Debatte über die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit einer Impfflicht gegen COVID-19 ist in vollem Gange. Damit ein Gemeinschaftsschutz, die sogenannte Herdenimmunität, gegen das Virus besteht, müssen weit mehr als die ursprünglich geschätzten 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung den vollständigen Impfschutz erhalten. Die Sorge besteht, dass diese Quote nicht erreicht wird, wenn die Entscheidung für oder gegen eine Impfung eine individuelle bleibt.

    „Wenn die Menschen in Bezug auf das Impfen eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen, kommen sie oft zu einem falschen Ergebnis“, so Helweg-Larsen. „Der Nutzen einer Impfung übersteigt die Kosten in persönlicher und gesellschaftlicher Hinsicht bei Weitem.“

    Psychologisch gesehen sei es jedoch besser, den Menschen eine Wahl zu lassen. „Wir haben die Möglichkeit, Menschen durch Einschränkungen dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern, wenn es anderen Leute schadet“, sagt sie. „Darum behandeln wir zum Beispiel Raucher nicht wie Kriminelle, sondern setzen stattdessen auf Nichtraucherkampagnen und Rauchverbote.“

    Übertragen auf COVID-19 könnte ihr zufolge die Lösung sein, die Entscheidung zur Impfung jedem selbst zu überlassen. Entscheidet man sich aber dagegen, müsse man eben mit den Unannehmlichkeiten regelmäßiger Tests und dem Tragen von Masken leben.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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