Opfer für die Wissenschaft: Wenn der Körper zur Forschungsstätte wird

40 Tage in einer dunklen Höhle oder 30 Tage Bettruhe in Schräglage – es gibt Menschen, die bringen große Opfer für die Forschung. Fünf Extremversuche und ihr Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 14. Juni 2023, 09:28 MESZ
Ein Mann liegt in Schräglage im Bett und schaut auf einen Bildschirm.

 Für die NASA verbringen sogenannte Erd-Astronauten regelmäßig bis zu 70 Tage in einer solchen Schräglage. Dabei werden die Effekte auf den menschlichen Körper getestet, die denen der Schwerkraft bei Raumfahrten extrem ähneln.

Foto von Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, DLR

Wie wirkt sich extreme Isolation auf die körperliche und seelische Verfassung aus? Was passiert mit uns Menschen in einer Höhle ohne Sonnenlicht? Und wie kann man den menschlichen Körper optimal für die Raumfahrt vorbereiten? All diese Fragen kann man zunächst theoretisch untersuchen – letztendlich bringen aber nur tatsächliche Experimente die Antwort. Und zwar solche, die die Proband*innen wortwörtlich am eigenen Leib erfahren.

Noch vor wenigen Jahrzehnten wimmelte es in der Forschung geradezu von ethisch und moralisch nicht vertretbaren Humanexperimenten – nicht zuletzt zur Zeit des Nationalsozialismus, als Mediziner in Konzentrationslagern im Namen der Medizin Gräueltaten an Gefangenen ausübten.

Heute sind Humanexperimente in Medizin und Forschung streng reglementiert – beispielsweise durch Ethikkommissionen und offizielle Richtlinien und Gesetze. Die Bundeszentrale für politische Bildung verweist dabei auf konkrete Ethikregeln wie die informierte Einwilligung der Proband*innen, Freiwilligkeit und die korrekte Schaden-Nutzen-Abwägung. Versuche werden nur im Rahmen von streng überwachten Studien durchgeführt. Dennoch gestalten sich die Versuchsabläufe teilweise abenteuerlich.

Fünf Fälle, in denen Menschen ihr Wohlergehen für die Wissenschaft hinten anstellen – zumindest zeitweise.

Inhalt

Liegende Erd-Astronaut*innen: Bettruhe für die NASA 

Astronaut*innen sind im Weltall extremen Bedingungen ausgesetzt, die für den menschlichen Körper Folgen haben: Muskelschwund, Sehschwäche und Einbußen bei der Herz-Kreislauf-Gesundheit sind nur einige von ihnen. Um Raumfahrende auch auf langen Reisen eine bestmögliche Gesundheitsversorgung bieten zu können, führt die NASA seit einiger Zeit Studien durch, bei denen Freiwillige bis zu 70 Tage am Stück in einem um sechs Grad gen Kopf geneigten Bett verbringen. Denn diese Lage führt im menschlichen Körper ähnliche Veränderungen hervor wie die Schwerelosigkeit in den Raumschiffen. 

BELIEBT

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    Die Schräglage von 6 Grad muss während der gesamten Studienzeit eingehalten werden. Dabei führen Forschende regelmäßig Tests und Experimente durch, um die körperlichen Veränderungen der Proband*innen zu überwachen.

    Foto von Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, DLR

    Die Erd-Astronaut*innen müssen in der Schieflage essen, Sport treiben und sogar duschen – während sich die negativen Effekte, die auch eine Fahrt ins All mit sich bringt, bei ihnen einstellen: Der Kopf füllt sich mit Flüssigkeit und schwillt an, Muskeln und Knochen bauen ab, vor allem in den Beinen. Im Rahmen der Studien untersuchen Forschende dann, wie sich Flüssigkeitsverschiebung und Knochen- und Muskelschwund auf den Körper konkret auswirken. „Das Ziel der Studien ist es, geeignete Maßnahmen zu entwickeln, um diesen Problemen entgegenzuwirken“, sagt Andrea Nitsche vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), das seit einigen Jahren mehrere Runden einer 30-tägigen Bettruhestudie im Auftrag der NASA durchführt.

    Wirklich gefährlich sind die Studien für die Teilnehmenden nicht – aber laut Edwin Mulder, Projektleiter der Studie am DLR, dennoch eine echte Herausforderung. Neben den hervorgerufenen medizinischen Folgen der Schräglage müssen sich die Teilnehmenden an einen strikten Tagesablauf, eine feste Nachtruhe und einen festen Speiseplan halten. Die Teilnehmenden nehmen diese Strapazen aber wohl nicht nur wegen der Aufwandsentschädigung von mehreren Tausend Euro auf sich. „Wenn Menschen jemals auf dem Mars spazieren gehen oder längere Zeit im Weltraum leben, dann ist das auch ein Verdienst der freiwilligen Bettlägerigen“, so die NASA

    Operation am eigenen Körper: Der erste Herzkatheter

    Um sich nicht mit Ethikregeln in Zusammenhang mit Versuchspersonen auseinandersetzen zu müssen, waren Selbstversuche von Ärzten am eigenen Körper vor allem im späten 18. und über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg gängig – denn sie waren für die Mediziner der einfachste Weg, ihre Hypothesen zu testen. 

    Der wohl bekannteste Selbstversuch findet jedoch im frühen 20. Jahrhundert statt: Weil ihm Patientenversuche untersagt werden, legt der chirurgische Assistenzarzt Werner Forßmann kurzerhand bei sich selbst Hand an. 1929 schneidet er eine Vene in seinem Arm auf und führt sich durch diese einen dünnen Gummischlauch bis in seine rechte Herzkammer ein. Das Ganze hält er auf einem Röntgenbild fest. Der Eingriff geht als die erste Herzkatheterisierung der Welt in die Geschichte ein.

    Das Röntgenbild, das Werner Forßmann im Jahr 1929 aufnahm während der Katheter in seinem Herz steckte.

    Foto von Werner Forßmann, aus: Berliner Klinische Wochenschrift, 5. November 1929 / Wikimedia

    Mittlerweile ist der Eingriff in Krankenhäusern zur Routine geworden: Das Herz wird mithilfe eines dünnen Schlauchs, der meist über die Adern der Leiste, seltener über die Ellenbeuge oder das Handgelenk, bis zum Herzen in den Körper eingeführt wird, untersucht. Als Forßmann die Idee zur Katheterisierung des menschlichen Herzens hatte, führte man diesen Vorgang bereits erfolgreich bei Tieren durch. Wie genau die Vorgeschichte und der Hergang des Selbstversuchs konkret ausgesehen hat, ist heute allerdings nicht bekannt, denn Forßmann schilderte im Laufe der Zeit mehrere verschiedene Versuchsabläufe. 

    Zunächst hagelte es für den Versuch in Medizinerkreisen Kritik: Forßmann verlor seine Assistenzarztstelle an der Berliner Charité. Gewürdigt wurde der Versuch erst 27 Jahre später mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin – nachdem Forßmann wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP nach Ende des Zweiten Weltkriegs zwischenzeitlich ein dreijähriges Berufsverbot erhalten hatte.

    Experiment ohne Uhren: 40 Tage in einer finsteren Höhle

    Ähnlich wie die Bettstudien der NASA soll auch das „Deep Time“-Experiment aus dem Jahr 2021 dabei helfen, zukünftigen Astronaut*innen den Aufenthalt im All zu erleichtern. Bei dem Experiment verbrachten 15 Personen 40 Tage und Nächte in einer Höhle unter der Erde – ohne jeglichen Raum-Zeit-Bezug. Im Fokus des Experiments: Wie verhält sich die menschliche Psyche ohne Uhren und Tageslicht? Und wie gut funktioniert die innere Uhr ohne diese Zeitmarker?

    Um dieser Frage nachzugehen, begaben sich die Teilnehmenden in ein Base Camp in der Grotte de Lombrives in den französischen Pyrenäen. Dort mussten die Proband*innen bei durchgängig zwischen 10 und 12 Grad Celsius für 40 Tage verharren. Versorgt wurden sie durch die Ausrüstung und die Nahrungsmittel, die bereits vor Beginn des Experiments in die Höhle geschafft wurden. Während des Experiments beobachteten Forschende dann mithilfe von Sensoren den neuen Tagesrhythmus der Proband*innen. 

    Die Teilnehmenden des „Deep Time"-Projekts mussten ihren Strom durch Muskelkraft selbst herstellen. Im Fokus des Experiments stand die Frage, wie sich die innere Uhr der völlig isolierten Gruppe neu einstellt. 

    Foto von The Human Adaptation Institute

    Initiiert wurde das Experiment von Christian Clot, Gründer des Human Adaptation Institute, der auch am Experiment teilnahm. Für ihn stand die Frage im Vordergrund, wie eine Gruppe von Menschen sich in einer extremen Umgebung aneinander anpasst. In diesem Fall wurde schnell klar: Die Tage fühlten sich kürzer an. Die meisten Teilnehmenden dachten, es seien erst um die 30 Tage vergangen, als sie nach 40 Tagen aus der Höhle geholt wurden.

    Der Kraken: 60 Minuten im Horror-Karussell 

    Neben Muskelschwund und Seeschwäche haben Astronaut*innen auf ihren Reisen auch mit Reiseübelkeit zu kämpfen – meist während des Starts und der Landung des Raumschiffs, wenn sich die Körper der Raumfahrenden auf die jeweils neue Schwerkraft einstellen müssen. Zu den Symptomen gehören Schwindel, Übelkeit und Gleichgewichtsstörungen, was es laut der NASA schwierig machen kann, missionskritische Aufgaben bei der Landung oder beim Verlassen der Raumfahrzeuge auszuführen. 

    In der Mitte der riesigen Apparatur „Kraken“ befindet sich das Cockpit, in dem die Teilnehmenden der Studie nachempfinden sollen, wie sich der Start und die Landung mit einem Raumschiff anfühlt.

    Foto von U.S. Navy

    Helfen sollen Experimente mit dem Kraken, einer etwa 15 Meter langen, 100 Tonnen schweren Apparatur, die sich auf der Wright-Patterson Air Force Base bei Dayton, Ohio befindet. Diese funktioniert wie eine Art Karussell und kann Mitfahrende durch plötzliche Roll- und Nickbewegungen sowie horizontale und vertikale Ruckbewegungen desorientieren und so den Zustand im Raumschiff bei den Teilnehmenden auf der Erde simulieren. 60 Minuten sollen Proband*innen bald im Kraken verbringen – und für die Wissenschaft Übelkeit und Schwindel aushalten. 

    „Bisherige Berichte von Astronauten deuten darauf hin, dass leichte Kopfbewegungen ihnen helfen, den Gleichgewichtssinn schneller wiederzuerlangen“, sagt Michael Schubert, Neurophysiologe an der Johns Hopkins University und Leiter der Studie. „Die Tests mit dem Kraken werden es uns ermöglichen, genau zu bestimmen, ob und welche Kopfbewegungen den Astronauten helfen, ihren Gleichgewichtssinn schnell wiederzuerlangen.“

    Unsicher im Verkehr: Das Helmexperiment

    Bei seinem Helmexperiment war der Verkehrspsychologe Ian Walker wahrscheinlich nicht mehr oder weniger gefährdet als Fahrradfahrer es tagtäglich sind – in diesem Fall allerdings im Namen der Wissenschaft. Für seine Studien zum Thema Verkehrssicherheit begab Walker sich gleich mehrmals ohne Helm auf die Straßen der Stadt Salisbury in England. Dabei ging er der Frage nach: Wie überholen Autofahrer Fahrradfahrer? Und welche Rolle spielen das Geschlecht und das Tragen eines Helms?

    Im Rahmen seiner ersten und wohl bekanntesten Studie kam Walker zu einem eindeutigen Ergebnis: Fahrradfahrer*innen, die einen Helm tragen, werden von Auto- und LKW-Fahrer*innen durchschnittlich 8,5 Zentimeter näher überholt als solche ohne Helm. Wenn Walker als Frau verkleidet radelte, nahmen Fahrer*innen außerdem mehr Rücksicht: Ganze 15 Zentimeter mehr Sicherheitsabstand wurden im Durchschnitt eingehalten. „Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass Autofahrer bei einer Begegnung mit einem Radfahrer auf dessen Aussehen reagieren“, so Walker.

    In den Jahren nach der Veröffentlichung seiner Ergebnisse gab es Studien, die Walkers Ergebnisse anzweifelten. Auf diese antwortete er in den Jahren 2013 und 2014 mit zwei weiteren Studien, die seine Ergebnisse untermauerten.

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