Mehr als Kannibalismus: Die wahre Geschichte der Donner Party

Als eine junge Nation einen ganzen Kontinent zu verschlingen versuchte, brachen Pioniere auf der Suche nach einem neuen Leben nach Westen auf – und erlebten einen Albtraum, der in die Geschichte einging.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 23. Nov. 2020, 15:38 MEZ, Aktualisiert am 25. Nov. 2020, 11:03 MEZ
Der kalifornische Donner Lake erhielt seinen Namen von der Donner Party, deren Mitglieder 1846 in der ...

Der kalifornische Donner Lake erhielt seinen Namen von der Donner Party, deren Mitglieder 1846 in der Nähe einen schrecklichen Winter durchlebten.

Foto von Jason O. Watson, Alamy

Wäre alles anders gekommen, wäre eine Gruppe von amerikanischen Siedlern, die als „Donner Party“ in die Geschichte einging, über die Sierra Nevada nach Kalifornien gereist – und vermutlich hätte sich niemand an sie erinnert.

Doch schlechte Planung, eine Reihe schlechter Entscheidungen und unerwartet frühe Schneestürme führten dazu, dass 60 der ursprünglichen Pioniere im Winter 1846 in den Bergen eingeschlossen wurden. Unterkühlt und am Verhungern bestand ihr letzter Ausweg in einem der größten menschlichen Tabus: Kannibalismus.

Aber wer waren diese Menschen? Um diese Frage zu beantworten, kehrte Michael Wallis, Autor von „The Best Land Under Heaven: The Donner Party In The Age Of Manifest Destiny“, ganz an den Anfang zurück.

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Er tauchte in die Biografien führender Mitglieder der Siedlergruppe ein und verortete sie in den religiösen und politischen Kontexten ihrer Zeit. So hob er die tragische Geschichte der Donner Party über bloße Sensationsheischerei heraus und enthüllte ein paar unbequeme Wahrheiten über das Amerika von damals und heute.

National Geographic spracht mit dem Historiker für den amerikanischen Westen per Telefon.

Lassen Sie uns gleich auf den Punkt kommen: Haben sich die Mitglieder der Donner Party wirklich gegenseitig gegessen, um zu überleben? Welche Beweise haben wir dafür?

Es gibt verschiedene Arten von Kannibalismus: rituellen Kannibalismus, religiösen Kannibalismus und Kannibalismus aus Überlebensgründen. Diesen Überlebenskannibalismus gab es schon immer, und in jener Zeit gab es sogar eine Menge davon. Es gab Kannibalismus auf See, Kannibalismus bei Polarexpeditionen und es gab ihn sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein, im Warschauer Ghetto und in Stalingrad.

Um zu überleben, griffen die Mitglieder dessen, was später als Donner Party bezeichnet wurde, tatsächlich auf Kannibalismus zurück. Einige der wichtigsten Beweise dafür stammen von den Überlebenden selbst.

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    In Briefwechseln, Tagebüchern und später auch Interviews gaben sie freimütig zu, dass sie sich, als alles andere aufgegessen war, dem Kannibalismus zuwandten. Sie litten an Unterkühlung und Hunger, sie waren im Delirium. Aber sie wussten, dass draußen in den Schneebänken eine große Menge Protein lag: Menschen, die bereits gestorben waren. Sie hatten sie sorgfältig in die Schneebänke gelegt, und das war alles, was sie noch hatten.

    Sie hatten dort quasi einen Tiefkühler?

    Ja, sie sind quasi an ihre Tiefkühltruhe gegangen. Im Laufe der Jahre haben mich die Leute gefragt: „Woran arbeiten Sie gerade?“ Die kurze Antwort war: „An einem Buch über die Donner Party.“ Die lange Antwort war: „Ein Buch über die Torheit und Arroganz des Manifest Destiny, wie es durch die Augen seiner Fußsoldaten erzählt wird.“ Aber wenn ich nur die Donner Party erwähnte, fragten sie unweigerlich: „Sind das nicht die Pioniere, die in den Bergen eingeschlossen wurden und sich gegenseitig aufaßen?“ Dann sagte ich zwar „Ja“, aber musste dann erklären, dass das nur ein Bruchstück der Geschichte ist, wenn auch ein wichtiges.

    Foto von Liveright Publishing Corporation

    In Ihrem Buch schreiben Sie: „Die Schauergeschichte des Kannibalismus zieht eine reale Parallele zwischen den Menschenfleisch verzehrenden Individuen und der Gier eines Landes, den Kontinent zu verzehren.“ Das ist ein ziemlich hartes Urteil, oder?

    Es gibt so viele Metaphern und Elemente der Geschichte, die an diesem besonderen Punkt zwischen 1845 und 1847 aufeinandertreffen. Der Begriff Manifest Destiny (dt. „offenkundiges Schicksal“) wurde erstmals 1845 von John L. O'Sullivan von der „New York Post“ in einem Leitartikel geprägt. Viele Menschen, darunter natürlich auch Politiker und andere, die kommerzielle Interessen in den USA vertraten, kamen zu dem Schluss, dass der allmächtige Gott den Angloamerikanern den Auftrag erteilt hatte, das auserwählte Volk zu sein. Ihr Schicksal, ja sogar ihre offenkundige Bestimmung sei es, sich den gesamten Kontinent untertan zu machen.

    Das Timing dafür hätte gar nicht besser sein können. Wir hatten einen kriegslustigen, expansionistischen Präsidenten, James Polk. Der plante bequemerweise ohnehin gerade einen Krieg mit Mexiko, das einen Großteil des Landes besaß, das wir im Westen einnehmen sollten. Das Motto lautete: „Da draußen gibt es sowieso keine Menschen, also nehmen wir uns dieses Land!“ Natürlich gab es da draußen sehr viele Menschen, darunter die Mexikaner und Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Indianern. Was wir getan haben, war, ganze Nationen zu verschlingen.

    Das berüchtigtste Mitglied der Donner Party war ein deutscher Emigrant namens Lewis Keseberg. Erzählen Sie uns ein bisschen was über ihn und beschreiben Sie seine abscheulichen Taten.

    Für mich gibt es in dieser Geschichte keine strahlenden Helden oder Dämonen. Keseberg wurde zum großen Bösewicht dieser ganzen Tragödie gemacht, und er hat sich zugegeben nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Er und seine Frau Philippine kamen aus Deutschland. Er war der Sohn eines lutherischen Geistlichen, und sie beschlossen, sich dieser Vorhut anzuschließen, die gen Westen zog. Er hatte eine kurze Zündschnur und schlug seine junge, schwangere Frau manchmal. Er wurde auch beschuldigt, indianische Grabstätten geplündert zu haben.

    Als die mittlerweile vierte Suchmannschaft im April 1847 endlich sein Lager erreichte, war er dort der einzige Überlebende. Berichten zufolge fand man ihn mit einem Kessel gekochten Fleisches und weggeworfenen Knochen. Es gab sogar Gerüchte von einigen der überlebenden Kinder, die von früheren Suchmannschaften in Sicherheit gebracht worden waren, dass er einen Jungen mit ins Bett genommen hatte, um ihn zu trösten. Am nächsten Morgen war der Junge tot. Er sei wie ein Stück Fleisch an der Wand der Hütte aufgehängt und später gegessen worden.

    Für die Journalisten von damals war die ganze Story ein gefundenes Fressen. Sensationelle Geschichten, oft voller offenkundiger Lügen, verpassten Keseberg den Spitznamen „der menschliche Kannibale“. Es wurde geschrieben, dass er den Geschmack von Menschenfleisch genoss, und dass er, als die Retter ihm alternative Proteine anboten, sie mit den Worten „Oh nein, das gefällt mir besser“ ablehnte. Viele dieser Geschichten sind ziemlich verdächtig. Obwohl ich also nicht glaube, dass Keseberg jemand ist, den man verteidigen sollte, glaube ich doch, dass es ihn besonders hart getroffen hat.

    Sie sagen, es gab keine Helden und Heldinnen in dieser grausigen Geschichte. Aber eine Person, die besonders hervorsticht, ist Tamsen Donner. Erzählen Sie uns von ihr – und davon, wie die Frauen zu „Wölfinnen“ wurden, um ihre Familien zu retten.

    In all den vielen Jahren, die uns von der Donner Party und ihrer Tragödie trennen, haben die Menschen Tamsen als die wahre Heldin hervorgehoben. Es gab viele bewundernswerte Dinge, die sie getan hat. Sie war die geborene Lehrerin und träumte davon, eine Mädchenschule in Kalifornien zu gründen. Sie beschäftigte sich gern mit Botanik und sammelte Pflanzen entlang der Route. Für sie war die ganze Reise ein Lernabenteuer.

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    Dass die Menschen ausgerechnet Tamsen hervorhoben, liegt daran, dass sie sich absolut weigerte, ihren Ehemann George, den Ältesten der Donner-Brüder, im Stich zu lassen. Am Ende wurde ihr das zum Verhängnis. Kurz nachdem sie eingeschneit wurden, zog er sich eine Verletzung an der Hand zu. Er litt an Wundbrand, was ihn schließlich das Leben kostete. Tamsen schickte ihre Kinder mit verschiedenen Rettungsmannschaften mit, aber sie selbst blieb bis zum Schluss bei George.

    Eine der Überraschungen in Ihrem Buch ist, dass Abraham Lincoln mit der Donner Party hätte sterben können, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre.

    Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Für mich ist James Reed die interessanteste Figur. Er war ein irischer Einwanderer mit Unternehmergeist, der in Sangamon County in Illinois ein Unternehmen aufbaute. In Springfield, der Hauptstadt des Bundesstaates, gab es einen scharfsinnigen jungen Prärie-Anwalt, der Reed in verschiedenen Geschäftsangelegenheiten half. Sie waren Kameraden im Black-Hawk-Krieg gewesen und gute Freunde. Als Reed Konkurs anmeldete und sich auf den Weg nach Westen machte, um sein Leben wiederaufzubauen, war dieser junge Anwalt, Mr. Lincoln, anscheinend sehr daran interessiert, mit ihm zu gehen.

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    Lincoln war sein ganzes Leben lang an Kalifornien interessiert. Man bot ihm sogar ein Amt im pazifischen Nordwesten an. Er hätte sich der Donner Party vielleicht angeschlossen, aber er hatte eine engagierte und oft eigensinnige Frau, Mary Todd Lincoln. Sie hatte bereits Verwandte in Kalifornien, die in früheren Planwagenzügen dorthin gereist waren. Aber zur Zeit der Donner Party hatte sie einen kleinen Sohn und war schwanger. Auch Lincoln begann gerade seine politische Karriere, nachdem er für eine Legislaturperiode in den Kongress gewählt worden war. Also ging er nicht. Aber Mary Todd war da, um die Donner Party zu verabschieden, und winkte ihnen nach. Dieser Ausgangspunkt der verhängnisvollen Reise ist im Herzen Springfields noch heute ausgewiesen.

    Wie kamen die Überlebenden der Donner Party, insbesondere die Kinder, mit dem zurecht, was sie getan und gesehen hatten? Haben sie ein normales Leben geführt – oder waren sie zu sehr von ihren Erlebnissen gezeichnet?

    Der Verzehr von Menschenfleisch war ein absolut letzter Ausweg. Die Leute sagen gern: „Oh, diese Kannibalen, wie konnten sie das nur tun?“ Darauf erwidere ich gern: „Was würdest du als Mutter tun, wenn du zusehen müsstest, wie deine Kinder verhungern und erfrieren? Ihr habt bereits die Pferde und Ochsen gegessen und ihre Felle zu einem schrecklichen gallertartigen Gebräu gekocht; ihr habt Feldmäuse gegessen und schließlich die Kehlen eurer geliebten Familienhunde durchgeschnitten und sie gegessen, mit Pfoten und allem. Aber du weißt, dass es da draußen in den Schneebänken Protein gibt, das dich und deine Kinder am Leben halten kann.“


    Es hat die Kinder nicht wirklich traumatisiert, weil ihnen gesagt wurde, sie sollten es essen. Und sie wussten, dass es sie am Leben hielt. Einige von ihnen sprachen nie wieder davon. Einige leugneten es, aber nicht viele. Viele von ihnen führten ein völlig normales und erfolgreiches Leben, wie James Reed, der ein wohlhabender Bürger und Geschäftsmann im kalifornischen San Jose wurde.

    Dass ich so viele Informationen zusammentragen konnte, die noch nie zuvor wirklich besprochen wurden, liegt daran, dass ich Kontakt zu den Nachfahren der Donner Party aufgenommen habe. Nicht viele Menschen haben mit diesen Nachkommen gesprochen. Aber sie haben eine Menge zu erzählen!

    Es sind wunderbare Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Und ich habe einige von ihnen gefunden, die bereit waren, darüber zu reden und einige ihrer Archivmaterialien mit mir zu teilen. Es gab keine Schuldgefühle oder Peinlichkeiten. Sie wissen, dass sie Teil der Geschichte sind. Sie sind intelligente Menschen mit einem tollen Sinn für Humor, was sehr wichtig ist.

    Was haben Sie beim Verfassen dieses Buches über Amerika und die Natur des Menschen gelernt?

    Es hat mir mehrere Dinge bewiesen. Diese große Expansionsbewegung kam zu einem kritischen Zeitpunkt, als Amerika darauf fixiert war, seine Grenzen zu erweitern. Es war, wie der große Historiker Bernard Devoto es nannte, das Jahr der Entscheidung. Dennoch fand ich, dass viele der Entscheidungen keine guten Entscheidungen waren. Ich fand auch handfeste Beweise dafür, dass die alte und etwas klischeehafte Weisheit, dass diejenigen, die nicht aus der Geschichte lernen, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen, wahr ist.

    Die Geschichte der Donner Party, die in der amerikanischen Folklore eine so große Rolle spielt, ist nicht nur eine Metapher für das Manifest Destiny, sondern auch ein Mikrokosmos der USA. Kürzlich hat ein tödliches Duo der Vergangenheit wieder einen Aufschwung erfahren. Die beiden Worte, die einem zur Beschreibung der Gegenwart in den Sinn kommen, sind Ignoranz und Arroganz. Ich hoffe also, dass diese Geschichte auch für die heutige Zeit von Bedeutung ist.

    Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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