Die Deutschen wollen ihre Natur zurück

In Bayern erreichte eine Bürgerbewegung das scheinbar Unmögliche: Sie nahm es mit der mächtigen Agrarindustrie des Landes auf – und gewann.

Von Bridget Huber
Veröffentlicht am 17. Feb. 2021, 12:38 MEZ
Norbert Schäffer, Vorsitzender des Landesbundes für Vogelschutz in Bayern, und sein Mitarbeiter Paul Kasko besuchen einen ...

Norbert Schäffer, Vorsitzender des Landesbundes für Vogelschutz in Bayern, und sein Mitarbeiter Paul Kasko besuchen einen verwilderten Straßenrand in Bayern. Diese ungepflegten Blühstreifen sind ein wichtiger Lebensraum für Insekten und Vögel.

Foto von Lena Mucha

Als Norbert Schäffer als Kind in Bayern aufwuchs, streiften Rebhühner durch den Garten seiner Eltern, in den Feuchtgebieten wimmelte es von Molchen und Kröten, und Vögel wie Feldlerchen und Kiebitze waren häufig auf den Feldern zu sehen. Doch als Schäffer 2014 nach fast zwei Jahrzehnten Naturschutzarbeit in Großbritannien zurück in die Gegend zog, waren diese Begleiter seiner Jugend selten geworden.

„Für meine Kinder ist es normal, dass es keine Rebhühner gibt“, sagt der Biologe Schäffer, der heute den Landesbund für Vogelschutz in Bayern leitet. „Sie können Feldlerchen hören, aber ihre Kinder werden vielleicht auch das nicht mehr.“

“In einigen Wüstengebieten, in denen ich war, gibt es mehr Schmetterlinge als auf den Ackerflächen in Deutschland.”

von Guy Pe’er, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung

Überall in Europa verschwinden Arten, und nirgendwo schneller als auf landwirtschaftlichen Flächen. Seit 1990 sind beispielsweise die Populationen einst häufiger Feldvögel und Wiesenschmetterlinge um mehr als ein Drittel geschrumpft. Bienen, die eine zentrale Rolle bei der Bestäubung von Nutzpflanzen spielen, haben einen so dramatischen Bestandsrückgang erlitten, dass die Europäische Union Neonicotinoide – eine Klasse von Insektiziden, die ihnen schadet – verboten hat.

Ländliche Zufluchtsorte für Wildtiere – Hecken, Sümpfe, Wiesen, sogar Felswände – wurden entfernt, um Ackerflächen zu erweitern. In Deutschland und weltweit werden die riesigen Monokulturfelder manchmal als „grüne Wüsten“ bezeichnet – was den Wüsten nicht gerecht wird, sagt Guy Pe’er, ein Naturschutzbiologe in Leipzig. „In einigen Wüstengebieten, in denen ich war, gibt es mehr Schmetterlinge als auf den Ackerflächen in Deutschland“, sagt er.

Aber es weht ein frischer Wind durch diese öde Landschaft. Die EU hat sich in Umweltfragen als weltweit führend positioniert. Doch in letzter Zeit hat sie ihr Versagen hinsichtlich der Schaffung eines Nahrungsproduktionssystems erkannt, das die Natur schützt. Dafür haben in den letzten Jahren mehrere Regionen gezeigt, wie der Rückgang der Wildtierpopulationen umgekehrt werden könnte – allen voran Bayern.

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    Dass ausgerechnet das konservativste Bundesland Deutschlands diesen Trend anführt, ist überraschend. Für Schäffer deutet die Art und Weise dieses Sinneswandels darauf hin, dass ein umfassender Wandel im Gange ist – denn der Schritt zu mehr Naturschutz wurde von einer Welle der öffentlichen Unterstützung angetrieben.

    In Bayern erreichte eine Bürgerbewegung das scheinbar Unmögliche: Sie nahm es mit der mächtigen Agrarindustrie des Landes auf – und gewann.

    Insektenschwund: Ein plötzliches Erwachen

    Der 56-jährige Schäffer erzählt, dass sich die öffentliche Besorgnis über den Verlust der biologischen Vielfalt ab Ende 2017 deutlich verändert hat. Jahrelang häuften sich die Hinweise auf die Biodiversitätskrise in Europa, aber die Öffentlichkeit schien sie einfach nicht zu beachten. Dann erschien im Oktober 2017 eine Studie, die Deutschland wachrüttelte: Sie erklärte, dass die Biomasse von fliegenden Insekten innerhalb von Naturschutzgebieten in 27 Jahren um 75 Prozent zurückgegangen war.

    Lokale und internationale Nachrichtenagenturen warnten mit Schlagzeilen vor einem „Insekten-Armageddon“. Sogar die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von der Notwendigkeit des Insektenschutzes. „Es war erstaunlich“, sagt Schäffer.

    Ein Schmetterling verweilt auf der Hand der 14-jährigen Viola Heigl auf dem Bauernhof ihrer Familie im bayerischen Kallmünz. Ihre Eltern bewirtschaften den Hof seit Jahrzehnten biologisch. Die Zahl der Wiesenschmetterlinge in Europa ist in den letzten 30 Jahren um ein Drittel zurückgegangen.
     

    Foto von Lena Mucha

    Im darauffolgenden Sommer begann eine kleine Gruppe von Politikern, die sich für den Umweltschutz einsetzten, aber keinen Sitz im bayerischen Parlament hatten, Unterschriften für eine Petition zu sammeln. Deren Ziel: eine Gesetzesänderung, um die landwirtschaftlichen Praktiken zum Schutz der Artenvielfalt zu reformieren. Die Maßnahme würde den Anteil des ökologischen Landbaus fast verdreifachen – auf knapp ein Drittel der gesamten Anbaufläche. Außerdem würde sie ein Netzwerk von miteinander verbundenen Wildtierkorridoren schaffen, das Mähen auf einem Teil der Felder verzögern, um Vögel und Insekten zu schützen, und mehr Grünland und alte Obstgärten schützen, nebst anderen Maßnahmen.

    Schäffer war zunächst skeptisch, was die Erfolgsaussichten der Petition betraf, da die bayerischen Landwirte ein nicht zu unterschätzendes politisches Gewicht haben. Doch schon bald schlossen sich die Grünen und eine private Stiftung den Bemühungen an. Die Kampagne hatte zwei Wochen Zeit, um mitten im Winter fast eine Million Unterschriften zu sammeln – zehn Prozent der Wählerschaft im Freistaat.

    Und es war nicht einfach damit getan, zu Hause oder auf der Straße eine Petition zu unterschreiben. Die Wähler mussten mit ihren Ausweisen in ihr örtliches Rathaus gehen, um die Maßnahme zu unterstützen. Die Kampagne wählte die Honigbiene als Maskottchen und postierte Dutzende von Freiwilligen in Bienenkostümen auf bayerischen Stadtplätzen und an Straßenecken. Bald wurde sie als „Rettet die Bienen“-Kampagne bekannt.

    Als Bienen verkleidete Aktivistinnen in München während der Kundgebung zum Start der „Rettet die Bienen“-Petition im Januar 2019.

    Foto von Lino Mirgeler, PICTURE ALLIANCE/GETTY IMAGES

    Von morgens bis abends standen die Menschen Schlange, um zu unterschreiben. Da begann der Bayerische Bauernverband, der 140.000 Mitglieder hat und die Petition bis dato weitgehend ignoriert hatte, Lobbyarbeit zu betreiben, um sie zu zerschlagen. Sie argumentierten, dass es unfair sei, die Landwirte zum Sündenbock für den Verlust der Artenvielfalt zu machen, während andere Industrien wie das Baugewerbe, die sich auf offenen Flächen ausbreiten, ignoriert würden.

    „Die Landwirte hatten keine Ahnung, warum gerade sie etwas ändern sollten“, sagt Markus Drexler, ein Sprecher des Bauernverbands. Die Felder in Bayern sind tendenziell kleiner als in anderen Teilen Deutschlands, und mehr als die Hälfte der Landwirte nahmen bereits an Naturschutzprogrammen teil.

    Aber ein breiter Teil der Öffentlichkeit war eben doch der Meinung, dass die Landwirte etwas ändern müssten. Die Kampagne sammelte schließlich 1,75 Millionen Unterschriften – etwa 750.000 mehr, als sie benötigte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Regierung zwei Möglichkeiten: Dem Volksbegehren hätte ein bindender Volksentscheid folgen können, oder die Regierung hätte die Ergebnisse akzeptieren und den Vorschlag als Gesetz erlassen können. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der sich zunächst auf die Seite der Landwirte gestellt hatte, änderte seinen Kurs und versprach, den Vorschlag nicht nur zum Gesetz zu machen, sondern ihn zu stärken.

    “Der Nutzen, der hier in Bezug auf Wasserqualität und Artenvielfalt entsteht, kommt der gesamten Gesellschaft zugute. Also sollte die Gesellschaft ihn subventionieren und unterstützen.”

    von Hubert Heigl, Bio-Bauer

    „Er wollte als treibende Kraft des Prozesses gesehen werden“, sagt Schäffer, „als der bessere Naturschützer, grüner als die Grünen“. Nicht unpassend für einen Politiker, der schon damals als potenzieller Nachfolger von Angela Merkel angesehen wurde.

    Für Schäffer ging der Sieg jedoch weit über das neue Gesetz hinaus. Der Erfolg verdeutlichte, dass die Sorge um die Natur zum Mainstream geworden war und von der Politik nicht länger ignoriert werden konnte. „Es ist wirklich die Mitte der Gesellschaft, die wie auch beim Klimawandel sagt: Wir nehmen das nicht länger hin“, sagt Schäffer.

    Öko-Landbau als Dienst an der Gesellschaft

    Eines der ehrgeizigsten Ziele des neuen bayerischen Gesetzes war es, die ökologische Produktion auf damals 11 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche bis zum Jahr 2030 auf 30 Prozent der Fläche auszudehnen. Zum Vergleich: 2018 gab es in Europa insgesamt nur 7,5 Prozent ökologische Anbaufläche. Und in den Vereinigten Staaten wird weniger als ein Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche ökologisch bewirtschaftet. Um sein Ziel zu erreichen, will Bayern die Landwirte nicht zur Umstellung auf Bio zwingen, sondern sie durch finanzielle Anreize und andere Hilfen überzeugen.

    Um zu sehen, wie das aussehen könnte, treffe ich Schäffer an einem heißen, hellen Tag im September in Bayern. Er hat ein breites, freundliches Gesicht und ein auffallend fröhliches Gemüt für jemanden, der während einer langwierigen Periode des ökologischen Niedergangs in der Naturschutzbiologie gearbeitet hat. Schäffer nennt sich selbst einen fanatischen Naturschützer, aber er scheint generell eher freudig als in Untergangsstimmung. Natürlich will er die Natur für seine Enkelkinder retten, sagt er, aber er sieht auch einfach gerne Schmetterlinge. An dem Tag, an dem wir uns treffen, trägt er ein Fernglas und Wanderschuhe. Oft hält er mitten im Satz inne und zeigt mit einem leicht verträumten Lächeln in den Himmel, um auf einen Vogel zu benennen, den er entdeckt hat.

    Hubert Heigl begutachtet ein mit Zwischenfrüchten bepflanztes Feld auf seinem Bio-Schweinebetrieb. Zwischenfrüchte sind nicht für die Ernte gedacht, sondern helfen, die Fruchtbarkeit des Bodens zu verbessern.

    Foto von Lena Mucha

    Schäffer nimmt mich mit zu einem Bio-Bauernhof etwa eine Autostunde von Nürnberg entfernt, wo Evi und Hubert Heigl auf rund 80 Hektar hügeligem Land Schweine züchten und Getreide anbauen. Obwohl der Hof ordentlich ist, gibt es Bereiche mit Brennnesseln, hohem Gras und Wildblumen. Um ihre 90 Sauen und etwa 500 Ferkel zu füttern, bauen die Heigls Hafer, Dinkel und andere Getreidesorten in einer siebenjährigen Fruchtfolge an, die die Bodenfruchtbarkeit erhält und gleichzeitig das Unkraut in Schach hält. Im Sommer wächst das Getreide aus einem Unterwuchs von Blumen, die jetzt auf den Feldern stehen.

    Evi wuchs auf diesem Hof auf, der 1992 auf biologische Produktion umgestellt wurde. Auf die Frage, was sich seit ihrer Kindheit verändert hat, sagt sie: „Es gibt mehr Leben.“

    Die Heigls verkörpern eine neue Denkweise darüber, was es für einen Landwirt bedeutet, produktiv zu sein. Eine Denkweise, die nicht nur misst, wie viele Scheffel Getreide oder Pfund Fleisch ein Landwirt produzieren kann, sondern auch den Schutz der Natur als einen produktiven Akt sieht. Sie betreiben eine weniger intensive Landwirtschaft und erhalten Naturschutzförderungen, die durch das neue bayerische Gesetz erhöht wurden. Hubert ist der Meinung, dass Landwirte, die jedes Jahr Milliarden von Euro an Subventionen erhalten, nicht nur dafür bezahlt werden sollten, wie viel Land sie bewirtschaften, sondern auch dafür, wie gut sie die Luft, das Wasser und die Ökosysteme schützen, die das Leben erhalten.

    Am Rande eines Feldes stehend, sagt Hubert: „Der Nutzen, der hier in Bezug auf Wasserqualität und Artenvielfalt entsteht, kommt der gesamten Gesellschaft zugute. Also sollte die Gesellschaft ihn subventionieren und unterstützen.“

    Diese Idee, dass öffentliche Gelder in öffentliche Güter wie saubere Luft und Wasser fließen sollten, ist eine der Grundlagen von Bayerns neuem Gesetz. Dieser Tage sorgen Schäffer und die anderen Organisatoren der Kampagne dafür, dass die Regierung ihr Versprechen einlöst. Im Juli erschien der erste Fortschrittsbericht zum bayerischen Gesetz, basierend auf einer Analyse unabhängiger Forscher. Die Ergebnisse seien gemischt, gingen aber insgesamt in die richtige Richtung, so Schäffer. Der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Flächen wie der des Heigl-Hofs steigt, und tausende Hektar Wald wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes zusätzlich geschützt.

    Evi Heigl füttert ihre Schweine. Auf ihrem Biohof gibt es 90 Sauen und etwa 500 Ferkel.

    Foto von Lena Mucha

    Das Fehlen von Basisdaten hat die Bewertung anderer wichtiger Maßnahmen erschwert. Aber Naturschützer, einschließlich Schäffers Gruppe, überwachen die Populationen von Feldvögeln und Insekten, wie sie es schon seit Jahren tun. Das sollte ihnen mit der Zeit erlauben, einige Schlüsse darüber zu ziehen, wie gut das Gesetz die Artenvielfalt schützt oder wiederherstellt.

    Europa zögert bei Bio-Trendwende

    Bayern ist mit seinen Bemühungen nicht allein. In den Niederlanden ist ein ehrgeiziger Plan im Gange, die Lebensmittelproduktion neu zu gestalten, Korridore für den Lebensraum vieler Arten zu schaffen und sogar ein Label für biodiversitätsfreundliche Lebensmittel einzuführen. Die Regierung der Bretagne im Nordwesten Frankreichs unterstützt fast 20 Prozent ihrer Landwirte bei der Umstellung auf Praktiken, die die Tierwelt fördern, obgleich die Region auch mit den gesundheitsschädlichen Auswirkungen der landwirtschaftlichen Abwässer von Viehzuchtbetrieben zu kämpfen hat. Einige Farmen in Großbritannien zeigen mit dem Prinzip des Rewilding, dass es möglich ist, die Wildnis zurück auf die landwirtschaftlich genutzten Flächen zu bringen und trotzdem Nahrungsmittel zu produzieren. Und mehr als 400.000 Menschen haben eine europäische Bürgerinitiative namens „Save bees and farmers“ unterzeichnet. Ihr Ziel ist es, synthetische Pestizide abzuschaffen und die Artenvielfalt auf Bauernhöfen wiederherzustellen.

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    Vor etwa einem Jahr hat die Europäische Union auch einen europäischen Green Deal verabschiedet – eine Strategie für grünes Wachstum, die darauf abzielt, in Europa bis 2050 die CO2-Neutralität zu erreichen. Zwei ihrer Säulen, die „Farm to Fork“-Strategie und die „Biodiversity“-Strategie, befassen sich direkt mit der Art und Weise, wie die Lebensmittelproduktion die biologische Vielfalt beeinträchtigt hat. Die Maßnahmen zielen darauf ab, die ökologische Produktion zu fördern, den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren und eine wildtierfreundliche Landwirtschaft zu unterstützen.

    Solche neuen Strategien sorgen natürlich für Schlagzeilen. Aber was die europäische Lebensmittelproduktion wirklich prägt, ist die 1962 eingeführte Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU. Die GAP kostete im Jahr 2019 um die 58 Milliarden Euro und verbraucht mehr als ein Drittel des EU-Haushalts. Der Großteil davon fließt in Direktzahlungen an Landwirte, die größtenteils darauf basieren, wie viel Land sie bewirtschaften – und nicht darauf, wie gut sie die Umwelt schützen.

    Die EU-Regierung feilt derzeit an der nächsten Version der GAP, die das Schicksal der europäischen Lebensmittelsysteme und der Umwelt bis 2027 weitgehend bestimmen wird. Umweltgruppen hofften auf Reformen, die die Politik mit den hochgesteckten Zielen des Green Deals in Einklang bringen würden, von denen viele unverbindlich und unterfinanziert sind.

    Nach dem neuen Biodiversitätsgesetz müssen bayerische Landwirte einen fünf Meter breiten, ungepflügten Streifen zwischen ihren Feldern und Flüssen oder Bächen stehen lassen. Der Raum schützt das Wasser vor Düngemitteln und Pestiziden.

    Foto von Lena Mucha

    Es könnte gar nicht mehr auf dem Spiel stehen, sagt Celia Nyssens, die beim Europäischen Umweltbüro – einem Netzwerk von mehr als 160 Gruppen – an der Agrarpolitik arbeitet. „Die nächsten zehn Jahre sind entscheidend, um den Verlust der Artenvielfalt einzudämmen, um wirklich ein Massensterben zu verhindern, das über das hinausgeht, was wir bereits gesehen haben.“

    Aber landwirtschaftliche Konzerne und die Pestizidindustrie haben heftig gegen die Kürzung von Subventionen oder weitere Einschränkungen für Landwirte lobbyiert. Es war ein Schlag für die Umweltgruppen, als das Europäische Parlament und der Europäische Rat im Herbst 2020 gegen die meisten Umweltbestimmungen der vorgeschlagenen neuen GAP stimmten – einschließlich Änderungen, die verlangt hätten, dass sie die Ziele des Green Deals erfüllt.

    Die Verhandlungen gehen weiter. Aber viele Umweltgruppen und Wissenschaftler wie Pe’er, ein Schmetterlingsspezialist und Agrarpolitikexperte am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung und am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, sind skeptisch. Sie finden, dass die zur Diskussion stehende Version der GAP ein Rückschritt für die Umwelt und kleine landwirtschaftliche Betriebe ist. Sie könne sogar die öffentliche Unterstützung für die EU schwächen, da es in der Bevölkerung den starken Wunsch nach einem nachhaltigeren Lebensmittelsystem gibt.

    „Wenn sie es nicht schaffen, mit etwas Besserem aus den Verhandlungen zu kommen, ist das definitiv eine vertane Chance“, sagt Pe'er.

    Bienenschutz beflügelt einen Sinneswandel

    Auch wenn ein EU-weiter Ansatz an dieser Stelle fehlt, hat die „Rettet die Bienen“-Kampagne Wellen in ganz Deutschland geschlagen. Auch in anderen Bundesländern wie Baden-Württemberg, Brandenburg und Hessen haben Umweltgruppen ähnliche Volksbegehren vorgeschlagen, was einige Landesregierungen dazu veranlasst hat, vorsorglich die Umweltgesetze zu verschärfen. Bayern hat auch dazu beigetragen, den Grundstein für das Insektenschutzprogramm der Bundesregierung zu legen. Es zielt darauf ab, den Lebensraum zu vergrößern, den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren und die Lichtverschmutzung zu verringern, die das Verhalten der Insekten stört und sie zu einer leichteren Beute macht.

    Gleichzeitig wehren sich jedoch Landwirte in der gesamten EU zunehmend gegen die ihrer Meinung nach unfairen Umweltgesetze und die Verunglimpfung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit. In einer Reihe von europäischen Hauptstädten haben Landwirte mit riesigen Traktoren Straßen blockiert, um gegen neue Vorschriften zu protestieren. In Deutschland stellten sie grüne Kreuze auf ihren Feldern als Zeichen ihres Märtyrertums für die Umweltvorschriften auf. In Frankreich beklagen sich die Landwirte über das „Agri-Bashing“ und darüber, dass sie für alle gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gemacht werden, obwohl sie die Nation ernähren.

    Dieses Aufeinanderprallen von Weltanschauungen und die Spannung zwischen Menschen, die vom Land leben, und den Pflanzen und Tieren, die dort existieren, wird bei meinem nächsten Halt mit Schäffer deutlich: einem großen Maisfeld neben einem kleinen Bach. Dazwischen liegt ein fünf Meter breiter Brachestreifen – eine Vorschrift des neuen bayerischen Gesetzes. Wenn Landwirte direkt bis an das Ufer eines Baches oder Flusses pflügen, wird Erde ins Wasser gespült: Sie füllt die Zwischenräume zwischen den Steinen aus und begräbt Fischlaich unter sich, erklärt Schäffer. Auch Dünger sickert in das Gewässer und fördert die Algenblüte flussabwärts, die das Leben im Wasser erstickt.

    Selbst wenn der einzige Erfolg der Aktion „Rettet die Bienen“ wäre, solche Bäche zu schützen, hätte sich die Mühe gelohnt, sagt Schäffer. Er nennt diese Bachränder „Lebenslinien“, weil sie Tieren und Insekten einen Platz zum Überleben bieten, besonders wenn die Felder im Winter kahl sind. Sie sind aber auch ein Korridor, der Bewegung durch eine oft lebensfeindliche Landschaft ermöglicht.

    Aber diese spezielle Lebenslinie hat einen klaffenden Riss: Jemand, vermutlich der Bauer, hat eine Biberburg zerstört, die im Bach gebaut worden war. Biber, die in Bayern geschützt sind, können mit ihren Bauwerken Bäche aufstauen und Felder überfluten. Aber bei diesem hier scheint das nicht der Fall gewesen zu sein, zumindest nicht in letzter Zeit. Alles, was übrig ist, sind Schlamm, Stöcke und abgekaute Maisstängel – eine Erinnerung an die Grenzen des neuen Gesetzes.

    Schäffer untersucht Distelsamen von einem unbefestigten Randstreifen neben einer Straße. „Noch vor ein paar Jahren hätte man diese Trockenblumen nicht neben einer Straße gesehen“, sagt Schäffer. „Die Menschen hier in der Region haben ihr ästhetisches Empfinden geändert und verstehen, dass diese Blumen wichtig für Insekten sind.“

    Foto von Lena Mucha

    Am Ende eines langen Tages hält Schäffer vor einer Autobahnauffahrt am Straßenrand an. Eine der sichtbarsten Veränderungen, die Bayern seit der Aktion „Rettet die Bienen“ erfahren hat, sei eine, die nicht einmal gesetzlich vorgeschrieben war: Viele Gemeinden lassen ihre Straßenränder jetzt verwildern.

    Das sehe nicht nach viel aus, räumt Schäffer ein und greift nach einer Handvoll vertrockneter Stängel. Aber Raupen hängen ihre Kokons an trockene Stängel, und Stieglitze und andere Vögel fressen im Winter Distel- und Mohnsamen. Schäffer sagt, er habe von einigen Bürgermeistern gehört, dass sich die Leute jetzt beschweren, wenn die Straßenränder zu oft gemäht werden.

    Es ist nur eine kleine Veränderung. Aber für Schäffer ist sie der Vorbote eines größeren Wandels der öffentlichen Meinung. Wenn die Menschen die Schönheit oder zumindest den Nutzen solcher Straßenränder sehen, werden sie vielleicht anfangen, ihren Rasen seltener zu mähen. Vielleicht setzen sie sich für neue Gesetze ein, um mehr Lebensraum zu schützen. Vielleicht erkennen sie, dass Natur nicht nur etwas ist, das „da draußen“ in den Alpen oder im Dschungel geschützt werden muss, sondern etwas, das uns überall umgibt, eingeflochten in die vertrautesten Landschaften – wenn wir Platz dafür schaffen.

    „Das ist die neue Normalität“, sagt Schäffer.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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