Universalmensch: Was machte Leonardo da Vinci zum Genie?

Kleiner Tipp: Die Frage danach, wie die Zunge eines Spechts aussieht, ist Teil der Antwort.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 16. Nov. 2020, 16:27 MEZ, Aktualisiert am 16. Nov. 2020, 21:56 MEZ
Leonardo da Vinci war vieles: ein Maler, ein Architekt, ein Ingenieur, ein Theaterproduzent – und außerdem ...

Leonardo da Vinci war vieles: ein Maler, ein Architekt, ein Ingenieur, ein Theaterproduzent – und außerdem schwul, unehelich und im Italien der Renaissance überaus beliebt.

Foto von De Agostini, Getty

Ein Gemälde von Leonardo da Vinci wurde 2017 bei Christie’s für 450,3 Millionen Dollar verkauft – bei Weitem der höchste Preis für ein Kunstwerk, das je bei einer Auktion versteigert wurde. Der Betrag illustriert den sagenhaften Platz, den der große italienische Künstler in unserer Vorstellung einnimmt.

Heutzutage wird der Begriff „Genie“ genutzt, um Popstars, Stand-Up-Comedians und sogar Fußballspieler zu beschreiben. Doch Leonardo da Vinci hat diese Beschreibung wirklich verdient, erklärt Walter Isaacson in seiner aufwendig illustrierten Biografie. Von weltberühmten Gemälden – die „Mona Lisa“ und „Das letzte Abendmahl“ – über Entwürfe für Flugapparate bis hin zu bahnbrechenden Studien über Optik und Perspektive hat Leonardo Wissenschaft und Kunst zu Werken verschmolzen, die Teil der Menschheitsgeschichte geworden sind.

Courtesy Simon & Schuster

Im Interview mit National Geographic erklärte er, warum Mona Lisas Lächeln der Höhepunkt lebenslanger Untersuchungen ist, warum Michelangelo und Leonardo einander nicht ausstehen konnten und warum seine Neugierde Leonardos wichtigster Charakterzug war.

Wir müssen mit dem berühmtesten Lächeln der Welt beginnen. Wie passt die „Mona Lisa“ in Leonardos Leben und Werk – und wie hat sie es geschafft, uns 500 Jahre lang zu verzaubern?

Das Lächeln der Mona Lisa ist der Höhepunkt seines Lebens, das er darauf verwendet hat, Kunst, Wissenschaft, Optik und jedes andere mögliche Gebiet zu studieren, das seiner Neugier standhielt. Dazu zählte auch, dass er das Universum und unseren Platz darin begreifen wollte.

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    Leonardo widmete viele Seiten seines Notizbuchs der Erforschung des menschlichen Gesichts. Er wollte jeden Muskel und Nerv ausmachen, der die Lippen berührte. Auf einer dieser Seiten sieht man ganz oben eine schwache Skizze – die Anfänge des Lächelns der Mona Lisa. Leonardo behielt dieses Gemälde von 1503, als er es anfing, bis zu seinem Tod im Jahr 1519 und versuchte, jeden Aspekt Schicht für Schicht perfekt darzustellen. In dieser Zeit sezierte er das menschliche Auge an Leichen und verstand sogar, dass das Zentrum der Netzhaut Details sieht, aber die Ränder Schatten und Formen besser sehen. Wenn man direkt auf das Lächeln der Mona Lisa schaut, sinken die Mundwinkel leicht nach unten, aber die Schatten und das Licht lassen es so erscheinen, als würden sie sich nach oben wenden. Wenn man den Blick über ihr Gesicht schweifen lässt, flackert das Lächeln immer wieder kurz auf und verschwindet.

    Er trug sein Notizbuch bei sich, wenn er durch Florenz oder Mailand ging. Immer wieder zeichnete er die Gesichtsausdrücke und Gefühle der Menschen und versuchte, diese mit ihren inneren Emotionen in Beziehung zu setzen. Das sieht man am deutlichsten im „Letzten Abendmahl“.

    Leonardo da Vincis „Mona Lisa“.

    Foto von VCG Wilson, Corbis, Getty

    Aber die „Mona Lisa“ ist der Höhepunkt, weil ihre Emotionen ebenso wie ihr Lächeln nur schwer zu erfassen sind. Jedes Mal, wenn man sie ansieht, wirkt sie etwas anders. Im Gegensatz zu anderen Porträts dieser Zeit ist das nicht nur eine flache, oberflächliche Darstellung. Sie versucht, die inneren Emotionen abzubilden.

    Sein anderes berühmtestes Meisterwerk ist „Das letzte Abendmahl“, das Sie „das fesselndste erzählerische Gemälde der Geschichte“ nennen. Nehmen Sie uns in seine Schöpfung mit und erklären Sie uns, warum es ein so überragendes Kunstwerk ist.

    Der Herzog von Mailand bat ihn, es an die Wand eines Speisesaals eines Klosters zu malen. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen des Letzten Abendmahls, von denen es damals Hunderte gab, hält Leonardo nicht einfach nur einen Moment fest. Er versteht, dass es so etwas wie einen zusammenhanglosen Moment nicht gibt. Er schreibt, dass in jedem Augenblick das verkörpert wird, was vor und nach ihm geschehen ist, weil er in Bewegung ist.

    Er macht „Das letzte Abendmahl“ also zu einer dramatischen Erzählung. Wenn man zur Tür hereinkommt, sieht man die Hand Christi. Wandert der Blick seinen Arm hinauf, sieht man in sein Gesicht. Er sagt: „Einer von euch wird mich verraten.“ Wenn man den Blick dann über das Bild schweifen lässt, kann man die Geräusche fast sehen, die von jeder Gruppe der Apostel ausgehen, als sie darauf reagieren.

    Leonardo da Vincis „Letztes Abendmahl“.

    Foto von Universal History Archive, Getty

    Die, die ihm am nächsten sitzen, fragen bereits: „Bin ich es, Herr?“ Diejenigen, die weiter weg sind, haben es gerade erst gehört. Während das Drama von der Mitte zu den Rändern plätschert, scheint es zurückzuschwappen, als Christus nach Brot und Wein greift. Das wird der Beginn der Eucharistie.

    Trotz dieser Errungenschaften war Leonardo zu seiner Zeit nicht in erster Linie als Maler bekannt, sondern als Architekt – und sogar als das, was wir heute einen Special-Effects-Manager nennen würden.

    Er war vor allem – auch wenn er sich manchmal anderes wünschte –ein Maler. Er sah sich selbst gerne als Ingenieur und Architekt, was er auch mit großer Leidenschaft tat. Aber seine erste Anstellung war als Theaterproduzent.

    Dabei lernte er viele perspektivische Tricks, denn die Bühne in einem Theater wirkt tiefer, als sie ist. Ein Tisch auf der Bühne wird beispielsweise leicht gekippt, damit man ihn sehen kann – das sehen wir auch im „Letzten Abendmahl“. Ebenso sind auf der Bühne die theatralischen Gesten der Figuren übertrieben, was auch beim Abendmahl der Fall ist.

    Leonardo da Vincis Notizbücher sind voller Skizzen von Erfindungen, darunter auch Flugmaschinen.

    Foto von Leemage, Corbis, Getty

    Seine theatralische Inszenierung brachten ihn zum Bau mechanischer Requisiten. Das waren beispielsweise Flugapparate und eine Luftschraube, die in einigen Aufführungen Engel von den Dachsparren herunterbringen sollte. Leonardo verwischte dann die Grenze zwischen Fantasie und Realität, als er versuchte, echte Flugmaschinen zu entwerfen, die technische Wunderwerke waren! Was er also im Theater aufschnappte, brachte er sowohl in seine Kunst als auch in seine Technik mit ein.

    Wie war Leonardo als Mensch? Er war Vegetarier und offen schwul – in einer Zeit, in der „Sodomie“ ein Verbrechen war. Und er war ein ziemlicher Dandy.

    Er war schwul, unehelich, Linkshänder und ein kleiner Ketzer. Aber das Gute an Florenz war, dass es in den 1470er Jahren eine sehr tolerante Stadt war. Leonardo lief in der Stadt herum und trug dabei kurze lila und rosa Kostüme, die für die Florentiner etwas gewöhnungsbedürftig waren. Aber er war sehr beliebt. Er hatte eine enorme Anzahl von Freunden sowohl in Florenz als auch in Mailand. Er schrieb über Abendessen mit engen Freunden, eine vielfältige Gruppe: Mathematiker, Architekten, Dramatiker, Ingenieure und Dichter. Diese Vielfalt hat ihn geprägt.

    Außerdem war er ein sehr gut aussehender Typ. Der „Vitruvianische Mensch“, der nackt in Kreis und Quadrat steht, ist größtenteils ein Selbstporträt von Leonardo mit seinen wallenden Locken und seinem wohlproportionierten Körper.

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    Zwischen Leonardo und Michelangelo bestand eine wohl bekannte und gegenseitige Abneigung. Woher kam diese Feindschaft?

    Leonardo und Michelangelo waren sehr unterschiedlich. Leonardo war beliebt, kontaktfreudig und fühlte sich mit all seinen Exzentrizitäten wohl, auch wenn er schwul war. Michelangelo war ebenfalls schwul, spürte aber die tiefen Qualen und Ekstase seiner Identität. Er war auch ein ziemlicher Einsiedler. Er hatte keine sehr engen Freunde und trug dunkle Kleidung, sodass die beiden in Aussehen, Stil und Persönlichkeit absolute Gegensätze waren.

    Auch in ihren Kunststilen waren sie sehr unterschiedlich. Michelangelo malte, als wäre er ein Bildhauer, mit sehr scharfen Linien. Leonardo war ein Verfechter des Sfumato, dem Verschwimmen der Linien. Er war der Meinung, dass wir die Realität tatsächlich auf diese Weise sehen.

    Die Herrscher von Florenz schufen für beide ein Wettbewerbsszenario, bei dem sie Schlachtszenen im Ratssaal malen sollten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Rivalität bereits zugespitzt.

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    Leonardo hatte sich dafür ausgesprochen Michelangelos David-Statue in irgendeinem Säulengang zu verstecken, anstatt sie in der Mitte des Platzes aufzustellen. Michelangelo war in der Öffentlichkeit unhöflich zu Leonardo gewesen. All das hatte eine gewisse Spannung verursacht, sodass die Herrscher von Florenz sie gegeneinander antreten ließen, um diese beiden Schlachtengemälde anzufertigen.

    Am Ende kniffen sie beide und hörten auf, bevor sie die Gemälde fertiggestellt hatten. Dann zog Leonardo zurück nach Mailand und Michelangelo zog nach Rom, um an der Sixtinischen Kapelle zu arbeiten.

    Leonardo hat seine Gemälde nie signiert, was so manches Mal für Verwirrung sorgte. Erzählen Sie uns die erstaunliche Geschichte von „La Bella Principessa“.

    „La Bella Principessa“ ist eine Kreidezeichnung, die vor einigen Jahrzehnten bei einer Auktion auftauchte. Sie wurde nie für einen Leonardo gehalten und sehr preiswert verkauft, weil man sie für eine deutsche Kopie eines Florentiner Künstlers hielt.

    Ein Kunstsammler war jedoch überzeugt, dass es sich um einen authentischen Leonardo handelte. Er kaufte das Werk und brachte es zu Experten aus aller Welt, um festzustellen, ob es wirklich ein Leonardo war. Als man Fingerabdrücke fand, war der Fall ziemlich klar, denn Leonardo arbeitete oft mit seinem Daumen, um die Linien solcher Zeichnungen zu verwischen.

    Dann stellte sich heraus, dass der Typ, der diese Behauptung aufgestellt hatte, ein bisschen unzuverlässig und vielleicht sogar ein Betrüger war. Also wurde die Behauptung wieder zurückgezogen. Schließlich entdeckte man mit Hilfe von Martin Kemp, dem großen Leonardo-Gelehrten aus Oxford, dass es sich um eine von Leonardo angefertigte Zeichnung handelte. Sie war ursprünglich das Titelblatt eines Buches gewesen, das in einer Bibliothek in Polen lag – dort hatte es jemand herausgeschnitten.

    Und dann gibt es noch die relativ junge Geschichte von „Salvator Mundi“, einem wunderschönen Gemälde, das am 15. November 2017 bei Christies zum Verkauf angeboten wurde. Lange Zeit dachten wir, dass auch das eine Kopie sei. Aber in den letzten zehn Jahren wurde das Werk authentifiziert. Es wurde vor über einem Jahrzehnt für etwa 100 Dollar verkauft. Im November 2017 wurde es dann für 450,3 Millionen Dollar versteigert.

    Es war eine große Sache, denn es ist das einzige Leonardo-Gemälde in Privatbesitz. Wahrscheinlich wird nie wieder jemand einen Leonardo kaufen können.

    Eines der Naturelemente, das Leonardo bis zum Ende seines Lebens am meisten faszinierte, war das Wasser. Was sah er darin?

    Er war ein autodidaktisches Kind. Er ging nicht zur Schule, weil er außerehelich geboren wurde. Aber er liebte die Strömung der Bäche, die in den Arno flossen. Er studierte diese, und von seiner Kindheit bis zu seinem Sterbebett zeichnete er immer wieder die Spiralformen und versuchte, die Mathematik dahinter zu verstehen.

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    Das spiegelte sich auch in seiner Wissenschaft und seiner Kunst wider. Er liebte es, wie Luftströmungen kleine Strudel bildeten, wenn sie über die gekrümmten Flügel der Vögel flogen, und er erkannte, dass sie dazu beitrugen, den Vogel in der Luft zu halten. Dieser Effekt zeigt sich auch bei Flugzeugen, wie wir heute wissen.

    In jedem seiner Meisterwerke, einschließlich der „Mona Lisa“, sieht man einen sich windenden Fluss. Es scheint fast, als wäre er eine Verbindung zum Blutstrom der Person auf dem Porträt, wie eine Verbindung des Menschen mit der Erde.

    Was ist Ihrer Meinung nach der entscheidende Charakterzug, der Leonardos Genialität ausmachte? Und was kann er uns lehren?

    Im letzten Kapitel versuche ich, diese Frage mit 25 Lektionen von Leonardo zu beantworten. Sie bringen auch Lektionen aus meinen früheren Büchern über Steve Jobs und Albert Einstein auf den Punkt. Bei all diesen Büchern ist mir aufgefallen, dass Kreativität aus der Verbindung von Kunst und Wissenschaft entsteht. Um wirklich kreativ zu sein, muss man sich für alle möglichen verschiedenen Disziplinen interessieren, anstatt ein Spezialist zu sein.

    Das ultimative Beispiel dafür ist Leonardo da Vinci, der sich für alles interessiert, was man über das Universum wissen kann. Dazu gehört auch die Frage nach unserem Platz im Universum. Das machte ihn zu einer Persönlichkeit, über die zu schreiben Spaß macht.

    In seinen Notizbüchern sehen wir solche Fragen wie: Wie sieht die Zunge des Spechtes aus? Warum gähnen Menschen? Warum ist der Himmel blau? Er ist leidenschaftlich neugierig auf alltägliche Phänomene, die die meisten von uns nicht mehr hinterfragen, wenn wir unserer Kindheit entwachsen und etwas abgestumpft sind.

    Auf alles neugierig zu sein, und zwar nur um der Neugier willen und nicht, weil es nützlich ist, war das zentrale Wesensmerkmal von Leonardo. Das war seine Motivation und damit hat er sich selbst beigebracht, ein Genie zu sein. Wir werden uns niemals Einsteins mathematische Fähigkeiten aneignen können. Aber wir können alle versuchen, von Leonardos Neugierde zu lernen und sie in uns selbst zu entdecken.

    Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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