Wüstenkatze im polnischen Wald: Knochen liefern Hinweise auf Domestikation der Katze

Aus der Wüste des Nahen Ostens folgte die Falbkatze den Menschen bis in die Wälder Polens. Dort jagte sie auf den Feldern Nagetiere – und traf auf eine einheimische Verwandte.

Von Virginia Morell
Veröffentlicht am 16. Juli 2020, 14:13 MESZ
Europäische Wildkatze

Die Europäische Wildkatze (hier zu sehen ein Tier im Parco Natura Viva in Italien) teilte sich in Polen vor 7.000 Jahren ihren Lebensraum mit der Falbkatze.

Foto von Joel Satore, National Geographic Photo Ark

Als die Bauern des frühen Neolithikums vor etwa 7.000 Jahren vom Fruchtbaren Halbmond in die restliche Welt aufbrachen, brachten sie ihre domestizierten Tiere wie Ziegen, Schafe, Rinder und Hunde mit. Womöglich war ihnen gar nicht klar, dass ihnen auch eine unauffällige Begleiterin folgte: die Falbkatze.

Vor etwa 6.000 Jahren erreichten die Migranten Polen und begannen, Wälder in offene Weiden und landwirtschaftliche Felder umzuwandeln. Parallel siedelten sich dort auch Nagetiere und Falbkatzen an – die Vorfahren unserer heutigen Hauskatzen. Zu diesem Schluss kam eine neue Studie, die in „Proceedings of the National Academy of Sciences“ erschien. Dafür untersuchten Wissenschaftler die ersten bekannten Skelettüberreste von Wildkatzen aus dem Nahen Osten, die in vier polnischen Höhlen in der Nähe früher Bauernsiedlungen gefunden wurden.

Chilenische Waldkatze: Der 10.000 Passagier auf der National Geographic Photo Ark
Eine Chilenische Waldkatze (Leopardus guigna), auch Kodkod genannt, in Fauna Andina, Chile. Diese kleine und kaum bekannte Katze ist die 10.000. Tierart auf der National Geographic Photo Arc. Wissenschaftler und Artenschützer glauben, dass es sich hierbei wahrscheinlich um die ersten je veröffentlichten Audioaufnahmen dieser Art handelt. Video mit Genehmigung von Joel Sartore, National Geographic Photo Ark.

„Das kam so unerwartet“, sagt die Studienleiterin Magdalena Krajcarz, eine Zooarchäologin an der Nikolaus-Kopernikus-Universität im polnischen Torun. Eine besonders bemerkenswerte Entdeckung war der Humerus einer Katze – ein langer Oberarmknochen –, der in einer Sedimentschicht mit Keramikgefäßen gefunden wurde.

Es ist ungewiss, ob die Katze tatsächlich eine Beziehung zu einem Menschen hatte, sagt Krajcarz. Neolithische Völker suchten ihr zufolge gelegentlich Höhlen auf, und der Knochen wurde vermutlich von einem Raubtier in die Höhle getragen. Aber die Anwesenheit der Katze deutet darauf hin, dass ihr ein Leben neben – wenn nicht gar mit – Menschen lag. Das sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur vollständigen Domestizierung, sagt Krajcarz.

Alle heutigen Hauskatzen sind Nachkommen der Falbkatze, die vor etwa 10.000 Jahren erstmals im Nahen Osten domestiziert wurde. Nun könnte ihre Entdeckung in Europa der Geschichte ein paar neue Wendungen geben, heißt es in der Studie vom Juli 2020.

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    Zum Beispiel haben die Wissenschaftler in denselben Höhlen auch die Knochen von vier Europäischen Wildkatzen ausgegraben – einer einheimischen Verwandten der Falbkatze. Das bedeutet, dass die Falbkatze bei ihrer Ankunft in ihrer neuen Heimat auf einen entfernten Verwandten gestoßen sein muss (die beiden Arten teilten vor etwa 200.000 Jahren ihren letzten gemeinsamen Vorfahren).

    Das wirft laut Krajcarz viele faszinierende Fragen auf, etwa ob die beiden Raubkatzen miteinander um Beute konkurrierten oder sich sogar paarten. In dem Fall hätten unsere Hauskatzen vermutlich eine komplexere evolutionäre Vergangenheit, als wir bisher angenommen haben.

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    Um mehr über die Beziehung zwischen den beiden Katzen herauszufinden, untersuchten die Wissenschaftler ihre Fressgewohnheiten. Dafür analysierten sie die Stickstoffisotope in den Knochen der Tiere.

    Andere Studien haben bereits gezeigt, dass neolithische Völker Dung zur Düngung ihrer Nutzpflanzen verwendeten. Nachgewiesen wurde das über ein erhöhtes Stickstoffniveau in ihren Knochen sowie in den Knochen ihrer Hunde und Nutztiere. Die Falbkatzen wiesen jedoch eine niedrigere Stickstoffkonzentration in ihren Knochen auf – ein Zeichen dafür, dass diese „Katzen eine ziemlich lose Bindung an Menschen hatten“ und für ihre Ernährung sicherlich nicht auf sie angewiesen waren, schrieb der Paläogenetiker Claudio Ottoni von der Sapienza-Universität in Rom in einer E-Mail.

    Stattdessen fraßen die Katzen wahrscheinlich Nagetiere, die auf den Feldern der Bauern lebten, darunter womöglich Unterarten der Hausmaus aus dem Nahen Osten sowie einheimische Arten wie Wühlmäuse und Waldmäuse.

    Eine Analyse der Knochen der Europäischen Wildkatzen offenbarte ein ähnliches Muster. Das bedeutet, dass auch sie in den Feldern und Kornkammern der Bauern Jagd machten. Die Analyse zeigte aber auch, dass die Europäischen Wildkatzen ihre Ernährung umstellten: von den kleinen Waldtieren, die sie zuvor gefressen hatten, stiegen sie auf Zugvögel wie Drosseln um, die wahrscheinlich von den neuen, offenen Ackerflächen angelockt wurden.

    „Die beiden Wildkatzen konkurrierten also nicht direkt miteinander“, sagt Krajcarz. „Sie konnten in diesem neuen Lebensraum koexistieren“, und sehr wahrscheinlich verpaarten sie sich auch. Zukünftige genetische Studien könnten das Ausmaß ihrer Hybridisierung aufzeigen – und ob die Gene der Europäischen Wildkatze Einfluss darauf hatten, wie sich die Falbkatze zur Hauskatze entwickelte.

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    Zum Beispiel haben die europäischen Gene möglicherweise über längere Zeit verhindert, dass die Falbkatzen aus dem Nahen Osten in diesem Teil Europas vollständig domestiziert werden konnten. Das passt ins Bild, da Knochen von echten Hauskatzen erst ab dem Jahr 200 n. Chr. in Polen auftauchen. Auch heute noch verpaaren sich Hauskatzen und Europäische Wildkatzen, was für die genetische Gesundheit der Wildkatzen leider eine Bedrohung darstellt.

    Ottoni, der nicht an der Forschung beteiligt war, lobte die Studie für die Analyse der Ernährung dieser alten Katzen. „Sie stellt einen bedeutenden Fortschritt“ in unserem Wissen über die Evolution der Hauskatze dar, urteilt er.

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    Archäologen vermuten, dass sich Falbkatzen – die etwas größer sind als moderne Hauskatzen, ihnen optisch aber stark ähneln – zuerst aus der Wüste geschlichen haben, um eine leichte Mahlzeit zu erbeuten: Hausmäuse, die durch die Farmen des Fruchtbaren Halbmondes huschten.

    Damit galten sie als Kommensalen: als Tiere, die die Ressourcen anderer ausnutzen – zum Beispiel Nahrungsvorräte oder Abfall – und gleichzeitig ihr Bestes taten, um eine engere Beziehung zu vermeiden. „Man nimmt an, dass Wölfe und Schweine auf ähnliche Weise den Weg der Domestizierung eingeschlagen haben“, sagt Krajcarz.

    Die Menschen tolerierten die flauschigen Fleischfresser vermutlich und schätzten eventuell auch ihre Fähigkeit, die Nagetierpopulation in Schach zu halten. Irgendwann ließen sie die Katzen schließlich auch in ihre Häuser.

    Die älteste bekannte Bestattung einer Hauskatze (ein 9.500 Jahre altes Grab) wurde 2004 auf der Insel Zypern gefunden. Neben der acht Monate alten Katze befanden sich in dem Grab dekorative Artefakte, darunter Muscheln und polierte Steine, sowie die Überreste einer 30 Jahre alten Person unbekannten Geschlechts – möglicherweise der Besitzer der Katze. Da es auf Zypern keine einheimischen Wildkatzen gibt, gehen einige Wissenschaftler davon aus, dass die Katzen vor etwa 10.000 Jahren von Seefahrern auf die Insel gebracht wurden.

    Es gibt noch viele offene Fragen über die Veränderungen in der Genetik und des Lebensstils, die Wildkatzen auf dem Weg zur Hauskatzenwerdung erlebt haben. Zum Beispiel: Verbreiteten sie sich dank der Schifffahrt über den ganzen Planeten oder liefen sie über Land langsam, aber stetig von Siedlung zu Siedlung?

    Krajcarz hofft, dass künftige genetische Analysen eines Tages den vollständigen Weg der Wildkatze von ihrer heimischen Wüste über das Ackerland bis in unsere warmen Wohnzimmer – und unsere Herzen – offenbaren werden.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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