Kohleausstieg: Wie sich das Rheinische Revier neu erfinden will

Ökoplastik aus Marmelade, klimaneutrales Papier aus Gras: Mit Bioökonomie, Hightech und Wasserstoff soll das Braunkohlerevier im Rheinland vom Klimasünder zum Klimaschützer werden.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 22. Feb. 2022, 08:37 MEZ
Europas größte Braunkohlegrube: Der Tagebau Hambach zwischen Jülich und Kerpen

Europas größte Braunkohlegrube: Der Tagebau Hambach zwischen Jülich und Kerpen

Foto von Joern / stock.adobe.com

Direkt vor den Toren Kölns liegt „Europas größtes Loch“. Eine 400 Meter tiefe Mondlandschaft wie aus einem Science-Fiction-Film. Monströse Bagger, die selbst mehr als 200 Meter lang und fast 100 Meter hoch sind, graben sich dort ins Erdreich. Der Tagebau Hambach zwischen Jülich und Kerpen ist Europas größte Braunkohlegrube. Auf 4.300 Hektar, einer Fläche größer als 6.000 Fußballfelder, fördert der Energieversorger RWE dort seit 1984 Braunkohle – jährlich 40 Millionen Tonnen.

Der Tagebau Hambach ist Teil des Rheinischen Braunkohlereviers mit den Tagebaubetrieben Garzweiler und Inden zwischen Köln, Aachen und Mönchengladbach. Die industrielle Nutzung im Rheinischen Revier begann Mitte des 19. Jahrhunderts.

Doch bald ist Schluss, nicht nur in Hambach. Der Kohleausstieg ist längst beschlossene Sache. Und nach dem Willen der neuen Bundesregierung soll er von 2038 auf 2030 vorgezogen werden. Die ersten Kohlekraftwerksanlagen im Rheinischen Braunkohlerevier gingen schon vom Netz, weitere folgen noch in diesem Jahr.

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Klimakiller Kohle

Riesige Natur- und Siedlungsflächen werden durch den dreckigen Brennstoff zerstört: Wälder gerodet, Dörfer abgerissen, Menschen umgesiedelt. Wird Kohle in Strom umgewandelt, gelangen große Mengen des Klimakillers Kohlendioxid in die Atmosphäre. Umweltverbände wie der BUND fordern einen Ausstieg schon vor 2030, um die Klimapläne einhalten zu können.

Doch was bedeutet der Kohleausstieg für eine Region wie das Rheinische Kohlerevier? Zehntausende Menschen leben dort seit Generationen direkt oder indirekt von der Braunkohle. RWE hat angekündigt, bis 2030 insgesamt 6.000 Arbeitsplätze abzubauen. Das seien 60 Prozent der Stellen, die der Betreiber in Tagebauen und Kraftwerken im rheinischen Revier hat. Die Angst ist groß, dass kaum neue Jobs entstehen.

BELIEBT

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    Zauberwort Bioökonomie

    Mitten im Rheinischen Revier sitzt das Forschungszentrum Jülich. Mit rund 6.800 Beschäftigten gehört es als Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft zu den größten Forschungseinrichtungen Europas. Von dort aus will man die Region für die Zukunft rüsten. Die Schwerpunkte reichen von neuen Energiespeichern über Supercomputing bis hin zur Hirnforschung. Und ein bislang kaum bekannter Forschungszweig soll dazu beitragen, dass sich die Region vom Klimasünder zum Klimaschützer wandelt.

     

    Bioökonomie heißt das Zauberwort. Die Forschung versteht darunter eine Wirtschaftsform, die sich an natürlichen Stoffkreisläufen orientiert. Statt auf schädliche fossile Ressourcen wie Kohle, Erdöl oder Gas setzt das Jülicher Team beispielsweise auf Mikroorganismen, Pflanzen oder Bioabfälle. So soll im Rheinischen Revier eine Modellregion für biobasiertes Wirtschaften entstehen.

    Bioplastik aus Schokolade

    Mit finanzieller Unterstützung des Bundes hat das Forschungszentrum Jülich 15 Innovationslabore eingerichtet, um den schnellen Transfer neuer bioökonomischer Verfahren von der Wissenschaft in die Wirtschaft zu ermöglichen. Im Labor „Agrophotovoltaik 2.0“ untersuchen Forschende beispielsweise, inwiefern Ackerflächen einen doppelten Nutzen bringen können: Am Boden wachsen Pflanzen, darüber erzeugen Solaranlagen grüne Energie – installiert auf hohen Gerüsten.

    Biobasierte Kunststoffe will das Innovationslabor „Upcycling regionaler Reststoffe“ herstellen. Mikroorganismen wandeln dazu Abfälle aus der Zucker-, Marmeladen- und Schokoladenproduktion um. Das Team im Labor „PlastiQuant“ forscht daran, wie sich winzige Kunststoffteilchen aus Trinkwasser und anderen Lebensmitteln aufspüren und entfernen lassen. Viele weitere Projekte, darunter eine Papierproduktion aus Grasfasern, wurden inzwischen ins Leben gerufen.

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    Die Kohle geht, neue Branchen sollen kommen. „Mit der nachhaltigen Bioökonomie wollen wir wichtige Beiträge zu Arbeit und Beschäftigung und zum Aufbau innovativer Perspektiven leisten“, sagt Ulrich Schurr, der die Bioökonomie-Sparte am Forschungszentrum Jülich leitet.

    Ein enges Netzwerk aus Industrie und Wissenschaft soll dabei helfen. „Unsere Strukturwandel-Initiative ist auf Kooperation mit Akteuren aus den verschiedensten Bereichen ausgerichtet“, erklärt der Pflanzenforscher. Weil das Rheinische Revier über eine vielfältige Landwirtschaft sowie Lebensmittel-, Chemie- und Energiewirtschaft verfügt, seien gute Rahmenbedingungen gegeben.

    Wasserstoff statt Kohle

    Alternative Energiekonzepte spielen hierbei eine zentrale Rolle. Beispielhaft dafür steht der Wasserstoff. Das Revier soll zum Hotspot für den grünen Energieträger werden. Dazu baut das Forschungszentrum Jülich einen Cluster für nachhaltige Wasserstoffwirtschaft auf. Dort entstehen dann unter anderem Technologien zum Speichern und Transport von Wasserstoff.

    Nach den Worten von Forschungszentrum-Chef Wolfgang Marquardt soll sich das Projekt auf diese Weise „als Innovationstreiber zu einem Leuchtturm entwickeln, der auch wegweisend für andere Regionen werden kann“ – und zugleich neue Arbeitsplätze im Revier schafft. Noch ist völlig offen, ob der gigantische Strukturwandel gelingt.

    Und Wirtschaftskraft ist nur eine Seite der Medaille. Was wird aus den Wunden, die der Kohleabbau in die Landschaft gerissen hat? Der Bund schreibt vor, dass die Betreiber die ehemaligen Abbauflächen wieder nutzbar machen müssen. Am Standort Hambach ist RWE für diese Rekultivierung verantwortlich.

    Das Lausitzer Seenland: Durch Fluten stillgelegter Braunkohletagebaue ist eine riesige Wasserlandschaft entstanden.

    Foto von Peter Radke

    Rekultivierung: Rückkehr der Natur?

    Zuschütten lässt sich die Kraterlandschaft nicht mehr, dafür fehlt es an Erdreich. Deshalb soll aus der Kohlegrube ein See entstehen. 2030 geht es los. Dann wird „Europas größtes Loch“ über eine unterirdische Rohrleitung mit Rheinwasser befüllt.

    Als Vorbild könnte ein Rekultivierungsprojekt in Ostdeutschland dienen. An der Lausitz entsteht derzeit auf rund 14.000 Hektar die größte künstliche Wasserlandschaft Europas. Wo früher Braunkohle gefördert wurde, leben heute Rothirsche, Wölfe und Seeadler. Mit seinen mehr als 20 Seen gilt das Lausitzer Seenland als Paradebeispiel für die Renaturierung.

    Doch Umweltverbände wie der BUND bleiben skeptisch. Grundsätzlich gebe es kaum einen größeren Eingriff in die Umwelt als den Braunkohletagebau. Ganze Landstriche würden verwüstet, das Grundwasser für lange Zeit geschädigt. Die Rekultivierung durch Wiederbewaldung oder künstliche Wasserflächen „vom Reißbrett“ könnten diese Verluste nicht ersetzen. Nach Auffassung des BUND sind die gravierenden Eingriffe nicht ausgleichbar.

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