Afropäisch: „Kulturelle Identität ist kein feststehendes Konstrukt“

Der britische Autor und National Geographic Explorer Johny Pitts begibt sich in seinem Buch „Afropäisch“ in die dunkle Vergangenheit des europäischen Kolonialismus, um zu verstehen, was die Identität von afrikanischen Europäern heute ausmacht.

Von Deborah Roth
Veröffentlicht am 26. Mai 2021, 16:41 MESZ, Aktualisiert am 29. Sept. 2021, 10:28 MESZ
Kenya+Fried+Chicken,+Firth+Park,+Sheffield

Johny Pitts läuft im dichten Nebel seiner Heimatstadt Sheffield: Dieses Bild beschreibt den Anfang seines Projekts und den Weg in eine noch unbekannte Zukunft.

Foto von Johny Pitts, Afropean.com

Was bedeutet es heutzutage, BPoC (Black and People of Color) in Europa zu sein? Als was identifizieren sich BPoC der zweiten und dritten Generation in Europa – als Afropäer? Johny Pitts, 36, Fotograf und Moderator für große kulturelle Institutionen wie MTV und BBC, wollte es wissen und ist durch ganz Europa gefahren, um es herauszufinden. Das Ergebnis: sein Buch „Afropäisch – Eine Reise durch das Schwarze Europa“. Auf seinem Weg durch acht Großstädte sammelt er fotografische Impressionen und trifft spontan auf andere Afropäer, mit denen er hinter die schillernde Fassade von Erfolg, Stereotypen und festgefahrenen Narrativen der BPoC in Europa blickt.

1985 in Sheffield als Sohn eines afroamerikanischen Soul-Musikers aus New York und einer britischen Weißen Mutter aus der Arbeiterklasse geboren, lernte Pitts früh, sich über Musik und Literatur zu definieren. Dort fand er einen sicheren Hafen als „Afropäer“. Eine Bezeichnung, die in den 90ern Popularität gewann und vor allem Schwarze Eliten in Europa widerspiegelt, die sich das Privileg erarbeitet haben, das Beste aus ihren beiden Welten für sich zu nutzen. Doch das Privileg ist nicht jedem gegeben.

Diese Erfahrung macht auch Pitts und er erlebt, wie sich der Ausdruck für ihn abnutzt, sei es politisch, beruflich oder sozial, denn hinter dem schillernden Ausdruck „Afropäer“ fristen BPoC ein Leben am Rande der europäischen Gesellschaften – oft unsichtbar. Diejenigen, die das Stadtbild maßgeblich prägen, sind nicht etwa die wenigen Karrieristen der Communities, sondern die Straßenfeger, Reinigungskräfte, Busfahrer und Imbissbetreiber.

In Rom, Marseille, Paris, Amsterdam, Brüssel und Berlin versucht Pitts, diese Akteure authentisch in ihrem Alltag einzufangen – die Unsichtbaren sichtbar zu machen. Diese Suche nach Identität dringt dabei teilweise tief in die kolonialistische Vergangenheit Europas ein. So beleuchtet er unter anderem die Gräueltaten, die Europäer an Afrikanern begangen haben und die bis heute kaum Beachtung finden. Er thematisiert den Völkermord durch das Deutsche Reich an den Herero und Nama im heutigen Namibia. Und er bespricht die Kongo-Konferenz von 1884 in Berlin, als Bismarck 13 europäische Staaten und die USA an einen Tisch zusammenbrachte, um über die bis heute in Afrika gültigen Landesgrenzen zu entscheiden.

Der literarische Stil, den Pitts verfolgt, ähnelt einer beobachtenden und teilnehmenden Feldforschung, die punktuell in einen historischen Kontext eingebettet wird. Hier stehen sein subjektives Gefühl und sein emotionaler Zugang im Vordergrund. Beide Qualitäten machen seine Suche nach einer afropäischen und gesamteuropäischen Identität für Außenstehende greifbar.

Wir treffen Pitts, wo man aktuell die meisten Menschen trifft: online. Noch sitzt er für unser Gespräch in seiner Wohnung in Sheffield, wo ihn im Anschluss einige weitere Interviewtermine erwarten. In den nächsten Tagen werden ihm zwei Preise für sein Buch verliehen, darunter auch der Leipziger Buchpreis.

BELIEBT

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    Herr Pitts, Sie haben auf Ihrer Reise Hunderte von Bildern geschossen. Gibt es ein Bild, das für Sie im Laufe der Zeit besonders wichtig geworden ist?

    Ja, ein Selbstporträt. Ich gehe in den abendlichen Nebel hinein in meinem Viertel in Sheffield. In dieser Zeit war ich wirklich verloren in meinem Leben und stand ganz am Anfang meiner Feldforschung zu dem Buch. Das Bild steht symbolisch dafür, im Dunkeln zu tappen und dass jeder Anfang schwer sein kann. Ein Buch zu schreiben ist wie am Abgrund zu stehen und auf eine sanfte Landung zu hoffen, der Weg ist nicht vorgegeben. Das Schreiben war ein zweischneidiger Prozess, es hat mich oft tief gespalten und mir am Ende eine Art kulturelles Fundament und Verständnis gegeben, das meinen Horizont erweitert hat.

    Es war verblüffend, mich in diese Arbeit hineinzudenken, Europa zu bereisen und dies schriftlich und fotografisch festzuhalten. Ein Zitat hat mich auf der Reise stets begleitet: „Wenn wir nicht mehr wissen, wohin wir gehen, beginnen wir den Weg zu uns selbst.“

    Wie war der Weg Ihrer Eltern: Was haben beide als „gemischtes Paar“ erlebt, in der Arbeiterklasse der 1980er in Sheffield? Was davon hat Sie nachträglich geprägt?

    Wenn Sie meinen Vater gefragt haben, welche Erfahrungen er mit Rassismus in Europa gemacht hat, kam von ihm: „Ich habe keine Probleme hier“. Das war ganz erstaunlich. Denn als Schwarzer Afro-Amerikaner hatte er bei den Briten eine Art Kultstatus, der wahrscheinlich noch daraus resultiert, dass die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg Alliierte waren und Amerikaner generell positiv konnotiert wurden. Da war die Hautfarbe wohl nebensächlich. Die Leute hielten ihn in erster Linie für einen US-Amerikaner. Wenn Sie hingegen meine Mutter gefragt haben, fiel die Antwort anders aus. Sie war diejenige, die sich im Alltag mit rassistischen Bemerkungen herumschlagen musste. Wenn sie mit uns als Babys unterwegs war, haben die Leute das oft abwertend kommentiert. Jemand sagte einmal: „So eine schöne Frau und dann so eine Schande.“ Damit wurde in aller Öffentlichkeit kritisiert, dass sie als Weiße Frau Schwarze Kinder hat. Solchen rassistischen Bemerkungen war sie oft ausgesetzt.

    Ich werde wiederum respektvoll und freundlich behandelt, sobald man meinen britischen Akzent vernimmt. Gerade in den USA habe ich mit meiner Sprache ganz andere Vorzüge als meine einheimischen Cousins genossen. So verhält sich das im Übrigen auch, wenn man einen afrikanischen Akzent hat, dann wird man sofort anders behandelt – allerdings ist der Akzent negativ konnotiert und man wird schneller ausgegrenzt und diskriminiert. Genau diese Disjunktion von Wahrnehmungen brachte mich dazu, quer durch Europa zu reisen und diesem Phänomen auf die Spur zu gehen.

    Sie hatten auch einen Zwischenstopp in Berlin und haben sich dort inmitten einer Antifa-Demo gegen Rassismus wiedergefunden. Was war das für eine Erfahrung?

    Wenn BPoC auf die Straße gehen, dann ist normalerweise etwas Schreckliches da draußen passiert. Eine solche Ungerechtigkeit, die man nicht länger wortlos hinnehmen kann. Wenn man beispielsweise an die massiven Unruhen der „Gelben Westen“ in Frankreich 2005 zurückdenkt, das sind echte Revolten, die von einem Ort des tiefen Schmerzes und des Leidens kommen. Das waren Leute, die alles verwüsten. Die Demo in Berlin fühlte sich für mich an wie eine Art Antifa-Party. Das war sehr befremdlich für mich.

    In Ihrem Buch wollen Sie auch „tiefliegende Missverständnisse beseitigen“. Können Sie erklären, was Sie genau damit meinen?

    Kulturelle Identität als feststehendes Konstrukt ist ein Missverständnis. Ich wollte herausfinden: Was genau ist eine BPoC? Was bedeutet Schwarzsein? Wie wurden Europäer zu Europäern – wer sind wir alle wirklich? Und wer sind wir Europäer heute? Selbst innerhalb der BPoC-Community findet man Brüche. In Schweden bin ich beispielsweise einem Tunesier begegnet, der auf Somalier herabgeblickt hat. In Lissabon habe ich mit Indern gesprochen, die ein Problem mit Angolanern hatten. Das ist internalisierter Rassismus und „Colorism“ – auch das soll das Buch offenlegen.

    „Labelling“, der Versuch Menschen und deren soziale Interkationsweisen vor dem Kontext ihrer Herkunft zu redefinieren, halten Sie in Ihrem Buch per se für schwierig. Denken Sie, dass Labelling zur Kernarbeit rassistischer Aufarbeitung gehört und den einzigen Weg beschreibt, eine neue soziale Struktur in der Gesellschaft zu etablieren?

    Ich würde vermeiden wollen, dass der Ausdruck „Afropäisch“ eine neue Marke oder ein neuer trendy Hashtag wird. Das passiert heutzutage relativ schnell. Eine der Tugenden von Labels ist, dass sie etwas Unsichtbares greifbar machen. Sie legen den Finger auf eine Wunde oder ein Thema, wodurch sich plötzlich ein wichtiger Diskursraum eröffnet. Durch das Labelling entstehen neue Gesprächsräume, ein neues Miteinander. Daher sollten Begriffe bzw. Labels niemals fixiert werden. Die Labels, die wir verwenden – wenn wir sie verwenden –, sollten wir ständig kritisch hinterfragen. Und wir sollten auch bereit sein, diese stets dynamisch an den sozialen Fortschritt in der Gesellschaft anzupassen.

    Ein langer Weg zum Erfolg: Der Autor arbeitete insgesamt 10 Jahre an seinem Buch.

    Foto von Johny Pitts

    Sie sind seit kurzem nun auch ein National Geographic Explorer und haben hierfür in letzter Zeit an einem Podcast gearbeitet – ist er die hörbare Erweiterung zu Ihrem Buch?

    Ja. Nicht jeder liest gerne und ich wollte, dass Interessierte trotzdem teilhaben können, daher haben wir den Podcast ins Leben gerufen. Die National Geographic Society hat mir und meinem Team freie Hand gelassen und es ist ein vollkommen authentisches Werkstück geworden, auf das wir sehr stolz sind. Und wir haben einfach tolle Gäste. Wir haben beispielsweise neulich mit Joy Denalane gesprochen. Sie hat erzählt, wie sie in West-Berlin aufgewachsen ist und an der Berliner Mauer als Kind immer wieder Tennis gespielt hat. Und wie der Fall der Mauer zwar ein großer Moment für die BRD war, sich aber nicht unbedingt positiv auf die damalige BPoC-Gemeinschaft ausgewirkt hat. Es geht also um all die Geschichten und gelebten Erfahrungen, die man aus erster Hand hört. Dann kann man sich ein besseres Bild machen und eigenständig seinen Horizont erweitern.

    Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

    Johny Pitts erhält am 26. Mai 2021 den Leipziger Buchpreis. „Afropäisch – Eine Reise in die afrikanische Identität Europas“ ist im September 2020 bei Suhrkamp erschienen. Der Podcast „Afropean“ wird von der National Geographic Society gefördert und erscheint Ende 2021.

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