Tierquälerei auf YouTube: Wie Tiere für Fake-Videos missbraucht werden

YouTube ist voll von gestellten Videos, für die Tiere unnatürlichen und potentiell tödlichen Kämpfen ausgesetzt werden. Das Ausmaß der Quälerei ist gigantisch. Tierschützer und -experten versuchen, dem ein Ende zu setzen.

Die YouTube-Richtlinien verbieten Inhalte, in denen Tiere gequält und missbraucht werden. Trotzdem ist die Plattform voll von Videos, für die Tiere durch Menschen Kampfsituationen ausgesetzt werden. Arten wie der Dunkle Tigerpython werden dabei besonders oft als Aggressoren, manchmal aber auch als Beutetiere eingesetzt.

Foto von Gerry Pearce, Alamy
Von Dina Fine Maron
Veröffentlicht am 9. Juli 2021, 15:27 MESZ, Aktualisiert am 12. Juli 2021, 14:32 MESZ

Mark Auliya findet es in Ordnung, wenn Schlangen andere Tiere angreifen – Fleischfresser bräuchten schließlich auch Nahrung. Doch über dieses YouTube-Video, das er eines Tages auf dem Bildschirm in seinem Homeoffice sah, konnte er nur angewidert den Kopf schütteln. „Es war einfach abstoßend“, sagt er.

Die Szenen zeigen einen Dunklen Tigerpython, eine Tierart, die normalerweise Vögel und kleine Säugetiere erbeutet. In dem Video aber ringt er mit einem Gibbon. Der Primat kämpft panisch um sein Leben, während der Python ihn fest umschlungen hält. Die Schlange beginnt zuzudrücken und der Gibbon verfällt gerade in Bewegungslosigkeit, als ein Mann auf der Bildfläche erscheint. Er trägt Jeans und ein blaues Fußballtrikot und beeilt sich, den Menschenaffen zu befreien. Den Python trägt er aus dem Bild, der Gibbon bleibt verstört zurück. Zusammengekauert, die Arme schützend über seinen Kopf gelegt.

„Es ist völlig klar, dass diese Szenen gestellt sind. Aber es gibt Leute, die glauben, sie wären echt“, sagt Auliya, Herpetologe am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander König in Bonn. Scheinbar soll der Eindruck vermittelt werden, der Mann käme zufällig dazu – gerade noch rechtzeitig, um den Gibbon zu retten. Doch dass das nur inszeniert ist, wird spätestens dann offensichtlich, wenn man die vielen Unstimmigkeiten des Videos betrachtet. Zum Beispiel beißen Pythons ihre Beute, um einen Ankerpunkt für ihren Würgegriff zu haben – in diesem Video ist davon jedoch nichts zu sehen. Außerdem sind sie nachtaktive Jäger. Das Video wurde aber, wie viele andere seiner Art, tagsüber gefilmt.

„Das Einzige, was an diesem Video echt ist, sind die Misshandlung und der Stress, denen die Tiere in dieser Situation ausgesetzt sind“, sagt Auliya.

Tierquälerei für Klicks

Tierschutzgruppen sind schon vor einigen Jahren auf die Videos aufmerksam geworden, in denen inszenierte Tierrettungen gezeigt werden. Ihre Anzahl und Beliebtheit auf YouTube ist seitdem rasant gestiegen. Sie alle zeigen Variationen desselben Themas: Ein Adler greift eine Schlange an, ein Krokodil eine Ente, Schlangen attackieren Hauskatzen, Hunde, Eidechsen. Doch egal, wie die Konstellation aussieht: Kurz bevor die Konfrontation eine tödliche Wendung nehmen kann, erscheint zufällig ein Mensch und greift rettend ein.

Während oder durch den Dreh eines solchen Videos geraten Tiere in starken Stress und können verletzt werden und sogar sterben, sagt Anne-Lise Chaber, Wildtierärztin und One Health-Spezialistin an der University of Adelaide in Australien. Sie hat untersucht, wie der Handel und der enge Umgang von Menschen mit exotischen Haus- und Wildtieren durch Inhalte auf YouTube normalisiert wird. Neben dem direkten Schaden, den die Tiere in den Videos nehmen, laden diese Inhalte auch zum Nachahmen ein und verbreiten falsche Informationen über die gezeigten Tierarten, erklärt Chaber. Beute zu fangen, sei natürliches Wildtierverhalten. Der Eindruck, der dem Zuschauer durch die Videos vermittelt werde, sei ein ganz anderer. Diese Darstellung führe zu einer Dämonisierung von Jägerspezies wie Schlangen und Raubvögeln.

“Das ist das, was man in den veröffentlichten Versionen der Videos nicht sieht. Die Verletzungen und den Tod der missbrauchten Tiere.”

von Nina Jackel, Gründerin und Präsidentin von Lady Freethinker

„Außerdem lenken sie die Aufmerksamkeit von echten Tier- und Naturschutzthemen ab“, sagt Daniel Nautsch, Naturschutzbiologe an der Macquarie University in Sydney und Mitglied verschiedener Reptilienspezialisten-Gruppen der Weltnaturschutzunion (IUCN), die den Schutzstatus von Wildtieren festlegt. Hinzu kommt, dass die Videos oft Titel tragen, die – so Nautsch – „Rassismus und kulturelle Missverständnisse“ befeuern: “Primitiver Mann rettet Schlange“, zum Beispiel.

Was bringt Menschen dazu, Tiere in solche Situationen zu bringen? Die Antwort ist einfach: Klickzahlen und viel Geld. „Ein Beitrag, der auf YouTube Millionen Mal aufgerufen wird, hat das Potential, dem Urheber tausende Dollar zu bringen“, erklärt Jason Urgo, Geschäftsführer von Social Blade, einer Firma, die Statistiken für soziale Netzwerke erstellt. Einen YouTube-Kanal zu eröffnen und darauf Videos zu teilen ist leicht und für jeden möglich. Doch die Berechtigung zur Teilnahme an den YouTube-Partnerprogrammen, in denen man durch Werbeanzeigen tatsächlich Geld verdient, hat ein Nutzer nur unter bestimmten Voraussetzungen: Sein Kanal muss einige tausende Abonnenten und im vergangenen Jahr mindestens 4.000 Stunden Betrachtungsdauer generiert haben.

Was unternimmt YouTube gegen die Videos?

Seitdem 2005 das allererste Video auf YouTube hochgeladen wurde, erlebt die Plattform ein exponentielles Wachstum. Doch die Stimmen der Kritiker werden immer lauter: Das Unternehmen entferne nicht konsequent genug Inhalte, die dem Gemeinwohl schaden – Verschwörungstheorien, Hassrede, Tierquälerei und ähnliches.

YouTubes Community-Richtlinien verbieten „gewalttätige oder blutrünstige Inhalte, die bei Zuschauern Schock oder Ekel hervorrufen sollen“. Laut dem Unternehmen selbst wurden 10.000 Mitarbeiter eingestellt, die mithilfe von maschinellem Lernen die 500 Stunden Videomaterial überprüfen sollen, die minütlich auf YouTube hochgeladen werden. Von Januar 2021 bis März 2021 seien mehr als neun Millionen Videos entfernt worden, die gegen die Community-Richtlinien verstoßen hätten, heißt es.

Doch der Prüfungsprozess sei mühsam, schwerfällig und nicht stringent, berichteten aktuelle und ehemalige Mitarbeiter der „Washington Post“. Um den Ablauf zu beschleunigen, hat YouTube Werkzeuge wie das Trusted Flagger-Programm etabliert. Dieses soll es etwa Behörden und Nichtregierungsorganisationen ermöglichen, Videos zu melden, die gegen die Richtlinien verstoßen. Entfernen können die Flagger das Material zwar nicht, doch in seinen Nutzungsbedingungen verspricht YouTube, dass von diesen Nutzern gemeldete Verstöße von seinen Teams priorisiert überprüft werden würden.

BELIEBT

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    In einem der vielen inszenierten Tierrettungsvideos auf YouTube umschlingt ein Dunkler Tigerpython einen Gibbon. Der Menschenaffe wird von einem Mann befreit, der scheinbar zufällig am Ort des Geschehens erscheint.

    Foto von Video Screenshot, YouTube

    Im März 2021 ließ YouTube verlauten, dass man in den nächsten Wochen damit beginnen wolle, inszenierte Tierrettungsvideos zu entfernen. Laut Lady Freethinker, einer kalifornischen Tierschutz-Non-Profit-Organisation, sind seitdem mehrere hundert Beiträge entfernt worden. Hunderte andere könnten aber nach wie vor aufgerufen werden.

    Nina Jackel, Präsidentin von Lady Freethinker, berichtet, dass sich die Organisation im April 2021 um eine Teilnahme an YouTubes Flagger-Programm beworben hat. Schon wenige Tage später hätten sie die Antwort erhalten, die Plattform würde „aktuell keine Flagger mit dem Hintergrund ihrer Organisation in das Programm aufnehmen“.

    YouTube wollte sich zu Fragen bezüglich dieser Entscheidung nicht äußern und lehnte eine Interviewanfrage von National Geographic ab. In einem Statement teilte das Unternehmen mit: „Wir haben in unserem Team engagierte Mitarbeiter, die unsere Richtlinien ständig prüfen und anpassen.“

    Der Kanal, auf dem das Python-Video zu sehen ist, hat 83.000 Abonnenten. Im Mai 2021 wurden dort fünf weitere dubiose Videos veröffentlicht, die angebliche Tierrettungen zeigen. In der Beschreibung eines Beitrags auf einem anderen Kanal heißt es, er würde „einen echten Kampf“ zwischen einem Schwein und einem Python zeigen. Seit seinem Upload im März 2020 wurde er allein im Mai sechs Millionen Mal angesehen. (Nachdem National Geographic um ein Interview gebeten und dem Konzern eine Liste mit Videos hatte zukommen lassen, die in Verdacht standen, Tierrettungen nachzustellen, sperrte YouTube diese beiden Kanäle im Juni 2021.)

    “Normalerweise verbringt ein Naturfotograf oder -filmemacher unzählige Stunden, Tage, Monate, ja, manchmal sogar Jahre damit, Bilder einzufangen, die auf ethisch korrekte Weise die Geschichte einer Spezies in freier Wildbahn erzählen.”

    von DJ Schubert, Wildtierbiologe, Animal Welfare Institute

    Tim Kasser, emeritierter Professor für Psychologie am Knox College in Illinois, hat Verbraucherwerte und Kapitalismus erforscht und erläutert, dass diese Videos zwei verschiedene Arten von Menschen ansprechen: Zum einen die, die durch die rührenden Szenen angezogen werden, in denen niedlichen Tieren das Leben gerettet wird. Zum anderen solche, die Spaß daran haben, dabei zuzusehen, wenn Tiere in Kämpfe verwickelt werden und in Not geraten.

    Die Videos werden zwar massenhaft aufgerufen, doch eher selten kommentiert. „Extrem mutige und gefährliche Arbeit”, schreibt ein User unter dem Python-Schweine-Video, das 27.000 Nutzern gefällt und nur 4.000 nicht.

    Ein anderer Kommentar: „Fantastisch“, gefolgt von sechs Herz- und Kuss-Emojis. (National Geographic hat sich entschieden, weder die Namen der Kanäle zu nennen, noch die Videos zu verlinken, um zu vermeiden, dass sich die Klickzahlen weiter erhöhen.)

    Inszenierte Tierrettungsvideos: So erkennt man sie

    Die inszenierten Rettungsvideos folgen einem Schema. Sie sind im Schnitt fünf Minuten lang und zeigen ein angreifendes Tier und sein Opfer in einem schlammigen Loch, umgeben von Pflanzen. Dem Kampf der Tiere wird das Näherkommen des menschlichen Retters gegenübergestellt, oft unterlegt mit dramatischer Musik. Häufig gehen dem tatsächlichen Kampf lange Beobachtungsszenen voraus. Dies geschehe möglicherweise, um den Stil von Naturdokumentationen nachzuahmen, sagt DJ Schubert, Wildtierbiologe am Animal Welfare Institute in Washington D.C.

    Laut Schubert sind die verschiedenen dramatischen Kameraeinstellungen und die schiere Masse der Videos auf einem Kanal ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie gestellt sein müssen. „Normalerweise verbringt ein Naturfotograf oder -filmemacher unzählige Stunden, Tage, Monate, ja, manchmal sogar Jahre damit, Bilder einzufangen, die auf ethisch korrekte Weise die Geschichte einer Spezies in freier Wildbahn erzählen“, sagt er.

    Laut Brent Stirton, der als National Geographic-Fotograf Wildtiere dokumentiert, ist es äußerst schwierig, Kämpfe zwischen Tieren mit der Kamera einzufangen. „Wenn man nicht gerade sein Haustier tief in den Everglade-Nationalpark in Florida bringt und es dort im Alligatorengebiet laufen lässt oder es mit Absicht einem Python vorsetzt, sieht man so etwas äußerst selten“, sagt er. Diese Art von künstlich erzeugten Situationen gebe es jedoch – und nicht nur auf YouTube.

    Stirton sagt, dass auch manche Tierdokumentationen oder Fernsehsendungen auf diesen Stil zurückgreifen: „Im schlimmsten Fall auch noch finanziert durch Fördergelder, die dann denen, die es richtig machen, fehlen. Richtig machen heißt, den Tieren unauffällig zu folgen, geduldig zu warten, und sie nicht zu traumatisieren.“

    Doch viele Anzeichen für gestellte Szenen und Videos, die für Wissenschaftler und Tierexperten offensichtlich sind, werden von den Zuschauern oft gar nicht bemerkt.

    Faszination Schlange

    Zum Beispiel sind am Körper mancher Tiere bereits vor Beginn des Kampfes Verletzungen zu erkennen. Das legt nahe, dass es bereits mehrere Aufnahmen hinter sich hat. Raubvögel machen oft einen kränklichen Eindruck und haben gestutzte Flügel, damit sie nicht wegfliegen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Tier in Gefangenschaft lebt. Anhand ihrer Gesichtsmarkierungen und eventueller Verletzungen könne man einzelne Schlangen identifizieren und so feststellen, ob sie schon in anderen Videos zum Einsatz gekommen sind, sagen Tierforscher, die sich im Auftrag von National Geographic etwa ein Dutzend dieser Videos angesehen haben.

    Man sollte außerdem aufmerken, wenn das angreifende Tier sich nicht wehrt oder versucht zu entkommen, wenn es am Ende des Videos von dem menschlichen Retter hochgehoben und weggetragen wird. Auch wenn die Szenen in einer Umgebung gefilmt wurden, in denen keines der involvierten Tiere natürlich vorkommt, ist das ein Alarmsignal. Wird beispielsweise eine Regenwald-Spezies auf einer trockenen, offenen Fläche gezeigt, kann etwas nicht stimmen, sagt Neil D’Cruze, Herpetologe und internationaler Leiter für Wildtierforschung für den Lobbyverband World Animal Protection.

    Unfreiwillige Klick-Könige: Eine Schlange, viele Rettungen
    Links: Oben:

    Ein Tier kommt oft in mehreren Videos zum Einsatz. Diese Schlange zum Beispiel taucht als Angreifer in zwei verschiedenen Rettungsvideos auf YouTube auf.

    Rechts: Unten:

    „Sie ist leicht an den auffälligen Punkten an den Seiten ihres Gesichts und den dunkel verfärbten Schuppen an ihrem Mund zu identifizieren“, sagt Neil D’Cruze, Herpetologe und internationaler Leiter für Wildtierforschung für den Lobbyverband World Animal Protection.

    bilder von Video Screenshot, YouTube

    Schlangen sind die häufigsten Opfer

    Neil D’Cruzes Fachgebiet ist die Erforschung des Empfindungsvermögens von Reptilien. „Wissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass Schlangen Sorge, Verzweiflung, Aufregung, Angst, Frustration, Schmerz, Stress und Leid empfinden können“, sagt er. „Diese Erkenntnisse müssen bei dem Umgang mit diesen Tieren unbedingt berücksichtigt werden.“

    Oft sind Schlangen in den Videos in der Rolle des Angreifers zu sehen, der kleinere, niedlichere Tiere attackiert. Herumgetragen zu werden sei für Schlangen äußerst unangenehm. Das gilt auch für einen Aufenthalt auf engem Raum mit anderen Tieren oder Menschen. Da Schlangen sich nicht dressieren lassen, seien vermutlich mehrere Versuche nötig, bis die gewünschten Szenen im Kasten sei, so D’Cruze. Und das habe unbekannte Folgen für das Wohlergehen der Tiere.

    Mark Auliya hatte beim Betrachten des Python-Gibbon-Videos schnell Mitleid mit der Schlange. Das gezeigte Tier sei viel zu schwach gewesen, um es mit dem weitaus größeren Gibbon aufzunehmen, sagt er. Es hätte sogar versucht, zu fliehen, nachdem der Menschenaffe begonnen hatte zu schreien, zu beißen, und den Kopf der Schlange auf den Boden zu schlagen. Die wechselnden Kameraeinstellungen und der Schnitt des Videos sorgten jedoch dafür, dass das kaum zu erkennen ist. Der Stress, unter dem sowohl Schlange als auch Gibbon in dieser erzwungenen Situation stehen, ist echt, so Auliya. 

    “Am 11. Mai 2021 machten wir YouTube über das Meldesystem auf Verstöße gegen die Richtlinien in zehn zufällig ausgewählten gestellten Tierrettungsvideos aufmerksam. Alle zehn Videos waren im Juni 2021 noch immer verfügbar.”

    von Nina Jackel, Gründerin und Präsidentin von Lady Freethinker

    Manchmal tragen die Schlangen bereits deutliche Verletzungen. In einem Video sieht man eine Schlange mit einem blutigen Schnitt auf der Schnauze – und das schon bevor sie zum Angriff auf eine Eidechse ansetzt. Ein anderes Video soll eine Schlange zeigen, die angeblich einen Hund attackiert. Das Tier ist kaum noch lebendig. Der menschliche Retter kann es viel zu leicht von seiner vermeintlichen Beute lösen, danach liegt es bewegungslos am Boden. „Ein gesunder, lebender Python liegt nicht einfach so herum”, sagt Auliya. „Er würde sofort wieder zum Angriff übergehen.“ Die Schnauzen der Schlangen in den Videos sind oft vernarbt und die Schuppen abgerieben – Verletzungen, die dann entstehen, wenn sich Schlangen in Gefangenschaft gegen die Drahtstreben ihrer Käfige werfen.

    „Das ist das, was man in den veröffentlichten Versionen der Videos nicht sieht“, sagt Nina Jackel von Lady Freethinker. „Die Verletzungen und den Tod der missbrauchten Tiere.“

    Der Algorithmus funktioniert – doch der Preis ist hoch

    Bei jedem YouTube-Video, das man sich ansieht, schaut YouTube mit. Genauer gesagt der Algorithmus, der sich genau merkt, was den Nutzer interessiert. Zum Zweck der Recherche für diesen Artikel war es unvermeidlich, einige angebliche Rettungsvideos aufzurufen. Innerhalb kürzester Zeit hatte der YouTube-Algorithmus das neue Interesse bemerkt und schlug weitere Inhalte dieser Art vor.

    2020 nahm Lady Freethinker YouTube in dieser Hinsicht genauer unter die Lupe. Im Rahmen einer dreimonatigen Recherche begann das Team zunächst damit, geläufige Suchbegriffe wie „Hundekampf“, „Hahnenkampf“ und „Affenquälerei“ auf der Plattform einzugeben. Nachdem die Videos aufgerufen wurden, schlug YouTubes Algorithmus ähnliche Inhalte vor. Auf diese Weise fand das Team von Lady Freethinker 2.000 Videos, in denen ihrer Einschätzung nach Tiere vorsätzlich zu Schaden kommen. Einige waren gestellte Tierrettungsvideos – insgesamt wurden diese 40 Millionen Mal angesehen.

    Nachdem „The Guardian“ und andere Medien über die Ermittlungen von Lady Freethinker berichtet und YouTube die URLs der Problem-Videos geschickt hatten, wurden sie von der Plattform entfernt. Das ist, laut Nina Jackel, aber nicht immer der Fall.

    „Wir haben YouTube am 11. Mai 2021 testweise über das Meldesystem auf Verstöße gegen die Richtlinien in zehn zufällig ausgewählten gestellten Tierrettungsvideos auf einem anderen Kanal aufmerksam gemacht“, erzählt sie. „Alle zehn Videos waren im Juni 2021 noch immer verfügbar.“

    Neun der zehn Videos wurden von YouTube entfernt, nachdem National Geographic das Unternehmen für diesen Artikel kontaktiert hatte. Außerdem deaktivierte die Plattform mehrere gemeldete Kanäle – drei von ihnen standen auf der Liste von Lady Freethinker. „Unsere Richtlinien zu gewalttätigen oder grausamen Inhalten verbieten Inhalte, die das unnötige Leid oder den Missbrauch von Tieren zeigen. In Zusammenhang mit diesen Richtlinien haben wir drei der Kanäle deaktiviert, die uns von National Geographic gemeldet wurden“, steht in einem Statement von YouTube vom 21. Juni 2021.

    Weiter heißt es: „Gegen Ende des Monats werden wir unsere Richtlinien zu gewalttätigen und grausamen Inhalten erweitern und ein deutlicheres Verbot für Inhalte festlegen, in denen Tiere absichtlich gequält und verletzt werden.“ Darüber, wie YouTube die Einhaltung des Verbots überwachen will und ob die neue Richtlinie offiziell verkündet wird, steht in dem Statement jedoch nichts.

    Zu einem späteren Zeitpunkt informierte YouTube National Geographic darüber, dass die neue Richtlinie am 30. Juni 2021 in Kraft treten würde, und es dadurch möglich sei, Videos von der Plattform zu entfernen, „für die Tiere absichtlich gefährdenden Situationen ausgesetzt wurden“. Wieder gibt es keine Erklärung, wie die Einhaltung der Richtlinien sichergestellt werden soll.

    Unterdessen werden weiterhin inszenierte Tierrettungsvideos auf YouTube veröffentlicht.

    Adler gehören zu den Tieren, die in den gestellten Rettungsvideos oft als Angreifer dargestellt werden. Dadurch werden Fleischfresser dämonisiert, für die es in freier Wildbahn ganz natürlich und überlebenswichtig ist, ihre Nahrung zu jagen und zu erlegen.

    Foto von Video Screenshot, YouTube

    Wer steckt hinter der Tierquälerei?

    Nina Jackel und andere Tierforscher sind sich einig, dass die meisten Videos, unabhängig von dem Kanal, der sie später veröffentlicht, wohl in Südostasien gefilmt wurden, höchstwahrscheinlich in Kambodscha. Oft ist in den Videos Khmer zu hören, die Hauptsprache des Landes, und bei den gezeigten Schlangen handelt es sich häufig um Arten, die in dieser Region heimisch sind. Auch die Vegetation der Umgebung passt ins Bild.

    90 Prozent der ärmsten Menschen der kambodschanischen Bevölkerung leben in ländlichen Regionen außerhalb der Städte, wo es kaum Arbeit gibt. Durch die Pandemie hat sich die Lage noch zusätzlich verschärft: Die Sektoren Tourismus, Produktion und Baugewerbe (das einen Arbeitsmarktanteil von 40 Prozent hat) sind drastisch eingebrochen.

    „An Orten wie Kambodscha und Vietnam halten viele Leute Reptilien als Haustiere, so wie wir Hühner halten“, erklärt Daniel Natusch, der sich für diesen Artikel einige der Videos angesehen hat. „Die Tiere in den Videos sehen aus, als würden sie die meiste Zeit in Käfigen im nächsten Dorf verbringen.“

    Bellingcat, eine niederländische Open-Source Website für investigativen Journalismus, suchte im Auftrag von National Geographic in mehr als einem Dutzend Videos von einem der erfolgreichsten Kanäle, die Inhalte mit gestellter Tierrettung zeigen, nach Hinweisen darauf, wo sie in der Welt gefilmt wurden.

    Foeke Postma, Ermittler und Ausbilder bei Bellingcat, sagt, dass „basierend auf einigen Details und den Bergketten, die in den Videos zu sehen sind“ vermutet werden kann, dass sie in der Nähe von Tuk Meas Khang Lech aufgenommen wurden, einer ländlichen Gegend im Süden Kambodschas. Genauere Angaben könne er aber nicht machen. Die Naturkulisse mache die Rückverfolgung und das Finden der exakten Drehorte schwer.

    Für die Menschen, die dieser Tierquälerei ein Ende setzen wollen, sei es jedoch sehr wichtig, die Drehorte zu kennen, sagt Nina Jackel. „Nur so können die Behörden etwas unternehmen.” Von ebenso großer Bedeutung sei es, die Inhaber der Kanäle zu kennen. „Das sind die Leute, die von Google Geld bekommen, wenn sie an Partnerprogrammen teilnehmen. Und sie erlangen durch die Videos eine Art Ruhm. Menschen lieben Aufmerksamkeit, sie ist ein nicht zu unterschätzender Motivator“, sagt Jackel. „Das bedeutet: Selbst, wenn sie mit den Videos kein Geld verdienen, machen sie vielleicht trotzdem weiter, weil sie mit Tierquälerei auf YouTube einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben.“

    Dass alle Inhaber dieser Kanäle in Kambodscha zu finden sind, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich – zumal das Land von den lukrativen YouTube-Partnerprogrammen ausgenommen ist.

    Nur Google und der Inhaber eines YouTube-Kanals wissen, in welchem Land der Kanal steuerlich und für den Zahlungsempfang registriert ist, sagt Jason Urgo von Social Blade. Die Kanalinfo-Seite, die für jeden zugänglich ist, müsse nicht zwingend die nötigen oder richtigen Informationen offenlegen. Man könne problemlos seinen Kanal in den USA registrieren und Videos von anderen Orten veröffentlichen.

    YouTube gab in einem Statement an, dass der Kanal, den Bellingcat untersucht hat, zur Teilnahme an einem Partnerprogramm nicht berechtigt sei.

    Wie man die Gewalt gegen Tiere beenden kann

    Nina Jackel findet, dass die Verantwortung, diese Videos zu melden, nicht beim Nutzer abgeladen werden darf: „Es ist Aufgabe von YouTube, sicherzustellen, dass Tierquälerei keine Plattform geboten wird und jegliche missbräuchliche Inhalte entfernt werden.“

    Nutzer, die auf Videos mit grausamen und quälerischen Inhalten stoßen, sollten diese trotzdem YouTube melden und auf keinen Fall teilen. In der rechten oberen Ecke jedes Videos gibt es eine Schaltfläche, hinter der sich die „Melden“-Option verbirgt. Wählt man diese aus, kann man danach – noch konkreter – erst auf „Gewalttätiger Inhalt” und dann auf „Tierquälerei“ hinweisen.

    Viele Experten sehen auch eine gute Möglichkeit darin, Druck auf die Werbetreibenden auszuüben. 2017 zogen große Marken wie PepsiCo, Walmart und Starbucks Anzeigen auf YouTube zurück, nachdem diese im Umfeld von Videos gezeigt wurden, die Hassrede beinhalteten. Der Boykott zwang YouTube dazu, eine strengere Durchsetzung der Richtlinien anzukündigen. 2019 überarbeitete die Plattform ihre Richtlinien zu Hassrede und Belästigung und verbot Videos, in denen bestimmte Gruppen über andere gestellt wurden, um damit Diskriminierungen zu rechtfertigen.

    Galerie: Wenn Tierliebe zur Sucht wird – Animal Hoarding nimmt zu

    Die Überwachung problematischer Inhalte ist ein „niemals endender Krieg“, den YouTube ausfechtet, so DJ Schubert vom Animal Welfare Institute. Das ändere jedoch nichts daran, dass es Aufgabe der Betreiber sozialer Netzwerke sei, Algorithmen zu entwickeln, die für die Einhaltung der eigenen Richtlinien sorgen. Außerdem müsse es selbstverständlich sein, dass ausreichend Mitarbeitende zur Verfügung stehen, um Tierquälerei in Videos zu finden und diese umgehend zu entfernen.

    YouTube könnte Programme einsetzen, die bedrohte oder gefährdete Tierarten in Videos erkennen und automatisch Meldung zum Grad der Gefährdung in Zusammenhang mit Tiermissbrauch machen, sagt Anne-Lise Chaber. Diese Informationen würden dann dem Nutzer gezeigt, bevor das Video startet. Eine ähnliche Methode setze YouTube bereits bei Videos ein, in denen es um Verschwörungstheorien geht.

    Aufklärungsboxen sind eine andere Idee. Sobald Nutzer auf YouTube nach einem Begriff zu einem Thema suchen, über das es viele falsche Informationen gibt, würde sich eine solche Box automatisch öffnen. Wird zum Beispiel nach „Coronavirus“ gesucht, finden sich in der Box weiterführende Informationen und Links zu offiziellen Seiten wie zu der des Robert Koch-Instituts oder des Gesundheitsministeriums. Außerdem würde die Box am Rand des Bildschirms zu sehen sein, während das Video läuft. Das könne man auch bei Tiervideos einführen, so Chaber.

    Doch nicht jeder ist davon überzeugt, dass Warnhinweise allein helfen. Jackel sieht die Gefahr, dass durch dieses Vorgehen der Anreiz, sich die inszenierten Tierrettungsvideos anzusehen, noch größer werden könnte. Zudem störe sie, dass die Aufklärungsboxen nur auf Falschinformationen hinweisen und nicht auf das eigentliche Problem: dass für die Videos Tiere gequält wurden.

    „Es geht um Gewalt gegen Tiere. Sie ist das Problem. Und sie darf nie erlaubt sein, schon gar nicht zur Unterhaltung, ganz egal, welchen Stempel man dem Ganzen aufdrückt“, sagt Jackel. Das Hauptaugenmerk müsse darauf liegen, diese Videos zu entfernen. Sofort. „Videos, die Gewalt gegen Tiere zeigen, haben auf YouTube keinen Platz. Punkt.“

    Wildlife Watch ist ein investigatives Journalismusprojekt von National Geographic Partners und der National Geographic Society mit einem Fokus auf Verbrechen und Missbrauch im Zusammenhang mit Wildtieren. Mehr Artikel von Wildlife Watch finden Sie hier, Informationen über die Non-Profit-Missionen der National Geographic Society sind unter natgeo.com/impact zusammengefasst. Hinweise, Lob, Kritik und Artikelvorschläge werden unter NGP.WildlifeWatch@natgeo.com entgegengenommen.  

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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