Kommentar: Ihr wollt keine Pandemien? Hört auf, die Natur zu missachten.

Ein führender Naturschützer und Biodiversitätsforscher, der jahrzehntelang im Amazonas gearbeitet hat, schreibt über die Lehren aus COVID-19.

Von Thomas E. Lovejoy
Veröffentlicht am 22. Mai 2020, 15:39 MESZ
Baum

Ein einsamer Baum steht in einem gerodeten Bereich des Amazonas-Regenwalds in Maranhão, Brasilien.

Foto von Charlie Hamilton James, Nat Geo Image Collection

Wie viele Menschen auf der Welt sitze ich derzeit wegen COVID-19 zu Hause in Isolation. Es ist nicht die erste Pandemie, die ich erlebe: Ich erinnere mich an die Polio-Epidemie vor der Entwicklung eines Impfstoffes. Damals sprachen Eltern in Anwesenheit ihrer Kinder über die unheimliche Erkrankung, indem sie das Wort buchstabierten – und dachten, ihre Kleinen würden das nicht verstehen. Viele dieser Erwachsenen hatten auch die Spanische Grippe von 1918 erlebt. In den letzten Jahren konnten wir in den Nachrichten mitverfolgen, wie Ebola, SARS und MERS in Afrika, Asien und dem Nahen Osten wüteten.

Mit der Ausnahme von Polio, das nur von Mensch zu Mensch übertragen wird, waren die meisten dieser Krankheitserreger Teil natürlicher Zyklen, die eigentlich nur Tiere betreffen. Sie gingen auf Menschen über, weil die Natur in irgendeiner Weise gestört wurde. Daraus lässt sich eine Lehre ziehen.

Es sollte uns nicht überraschen, dass fortwährend neue Krankheiten auftauchen – einige davon mit Pandemiepotenzial –, wenn die Menschheit die Natur weiterhin im großen Stil zerstört.

Fallbeispiel Gelbfieber

Ein klassisches Beispiel dafür, das heute vielleicht nicht mehr so bekannt ist, ist das Gelbfieber. Einst war es in vielen Ländern Amerikas gefürchtet, auch in Brasilien, wo ich im Laufe meiner Karriere als Biologe und Naturschützer gearbeitet habe. Das Gelbfieber entwickelte sich vor langer Zeit in den Wäldern Afrikas. Erst im 17. Jahrhundert kam es mit den Schiffen der Sklavenhändler nach Amerika. Dort entstand, genau wie in Afrika, in dicht besiedelten Gebieten ein urbaner Infektionszyklus: Die Krankheit wird über eine Stechmücke (Aedes aegypti) auf Menschen übertragen. Vermutlich wurde eben jene Mücke, die sich an ein Leben mit den Menschen angepasst hat, ebenfalls von den Sklavenschiffen aus Afrika mitgebracht.

“Die Lektion aus der Pandemie ist nicht, dass die Menschheit nun Angst vor der Natur haben soll. Sie muss sie erneuern, annehmen und begreifen, wie sie mit ihr Leben und von ihr profitieren kann.”

Im frühen 20. Jahrhundert erwies sich die aggressive Zerstörung potenzieller Brutplätze dieser Stechmücke als äußerst effektive Krankheitsprävention. Seit 1937 kann Gelbfieber durch den besten je entwickelten Impfstoff relativ einfach verhindert werden – die Wirkung hält ein Leben lang. In Brasilien kam es 1942 zum letzten Gelbfieberausbruch im urbanen Raum.

Aber die Krankheit ist nicht verschwunden. Genau wie in Afrika hat sie sich auch in den Wäldern Südamerikas ausgebreitet. Dort bewegt sich das Virus nomadisch durch die Baumkronen und tötet Brüllaffen und andere Affenarten. In jüngster Zeit griff es am Rande von Rio de Janeiro auch die letzte Population der bedrohten Goldenen Löwenäffchen an.

Selbst, nachdem man in brasilianischen Städten mit den Gelbfieberimpfungen begonnen hatte, kam es immer wieder mal vor, dass sich im Dschungel jemand mit der Krankheit infizierte. Lange Zeit blieb die Ursache ein Rätsel, da sich der Virenzyklus in 30 Metern Höhe abspielte.

Als Doktorand teilte ich mir am Instituto Evandro Chagas in Belem do Para ein Büro mit jenem Mann, der das Rätsel schließlich löste: der kolumbianische Forscher Jorge Boshell. Er hat beobachtet, wie Holzfäller im kolumbianischen Regenwald einen Baum fällten. Plötzlich fielen ihm lauter kleine blaue Stechmücken auf, die um ihre Köpfe herumschwirrten. Sie gehörten zur Gattung Haemagogus – bekannten Überträgern des Gelbfiebervirus. Für gewöhnlich leben diese Stechmücken in den Baumkronen und trinken dort das Blut von Affen. Weil die Menschen ihren Baum gefällt hatten, erhielten sie nun die Chance, Homo sapiens zu verkosten.

BELIEBT

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    Mücken verhalten sich unauffällig, um an Blut zu kommen

    Die Szene, die Boshell beobachtet hat, steht beispielhaft für die Bedrohung unserer Gesundheit, die aus unserer Störung der Natur erwächst. In den letzten paar Jahren gab es in Brasilien mehr als 750 Todesfälle durch Gelbfieber – der schlimmste Anstieg seit den 1940ern. Um zu verhindern, dass sich die Krankheit auch wieder in den Städten festsetzt, hat die Regierung erneut ein umfangreiches Impfprogramm beschlossen.

    Gelbfieber ist aber nicht das einzige Problem: Die Rodungen im Amazonas erzeugen auch Brutstätten für die Wirte und Vektoren anderer Krankheiten wie Malaria und Schistosomiasis. Auch beschränkt sich die Problematik nicht nur auf Brasilien. Wie die Corona-Pandemie gezeigt hat, kann unsere moderne Transportinfrastruktur menschliche Krankheitserreger in Windeseile um den Globus transportieren. Das Gleiche gilt für pflanzliche und tierische Krankheiten. Als ich diesen Artikel schrieb, wurde im Hafen von Baltimore in letzter Minute entdeckt, dass sich auf einem chinesischen Kohlefrachter massenweise Eier der Mottenart Lymantria dispar asiatica befanden – ein Schädling für mindestens 500 Pflanzenarten.

    Die Gefahren der Ausbeutung

    Für Epidemiologen und Virologen war die COVID-19-Pandemie keine echte Überraschung. Als naher Verwandter des SARS-Virus kann das neue Coronavirus in Fledermäusen überdauern, die größtenteils immun gegen seine Effekte sind. Auf einem Tiermarkt im chinesischen Wuhan sprang es dann wahrscheinlich von einem Tier auf einen Menschen über. Zuvor war das Virus vermutlich von einer Fledermaus auf ein anderes Tier übergesprungen, das dann auf einem solchen Markt gekauft und von Menschen verzehrt wurde. Märkte dieser Art sind ein wahrer Albtraum für den Tierschutz und dazu noch unhygienisch und völlig überfüllt – ein idealer Ort für die Entstehung neuer viraler Gefahren.

    Thomas Lovejoy

    Der Autor Thomas Lovejoy im brasilianischen Amazonas-Regenwald 1989.

    Foto von Antonio Ribeiro, Gamma-Rapho/Getty Images

    Ende Februar erließ China ein einstweiliges Verbot für den Handel mit und Verzehr von Wildtieren. Bislang ist unklar, ob daraus ein permanentes Verbot werden wird. Jeder neue Todesfall durch COVID-19 sollte ein weiteres Argument dafür sein, die Schließung von Wildtiermärkten in China, Südasien und Afrika zu einer internationalen Priorität im Bereich Gesundheit zu machen. Den Menschen aus den entsprechenden Regionen müssen dabei natürlich Alternativen zum Bushmeat geboten werden. Auch der Wildtierschmuggel und die Degradierung und Zerstörung von Lebensräumen, insbesondere Tropenwäldern, müssen kontrolliert und im besten Fall beendet werden.

    Wir leben von der Natur. Dort kommen wir her. Die Lektion aus der Pandemie ist nicht, dass die Menschheit nun Angst vor der Natur haben soll. Sie muss sie erneuern, annehmen und begreifen, wie sie mit ihr Leben und von ihr profitieren kann.

    Der Artenreichtum ist im Grunde eine gigantische Bibliothek voller Lösungen für biologische Probleme, von der natürlichen Selektion und Evolution eingehend getestet. Die eigenwillige Biologie der Fledermäuse – die gegen das Coronavirus immun sind – könnte beispielsweise zur Entwicklung einer Behandlung für COVID-19 beitragen. Die Menschheit respektiert bereits die Bibliotheken, die sie mit ihren eigenen Werken gefüllt haben. Wir haben allen Grund, der lebenden Bibliothek der Natur mit demselben Respekt und derselben Fürsorge zu begegnen.

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    Es gibt eine Frage, die Biologen wie ich wirklich hassen. Wenn jemand über irgendeinen Organismus fragt: Wozu soll der denn gut sein? Das ist so, als würde man ungelesen irgendein Buch aus dem Regal nehmen und fragen: Wozu soll das denn gut sein?

    Wozu ist denn beispielsweise ein Virus gut? Eine legendäre Persönlichkeit der Medizingeschichte beantwortete diese Frage einst, bevor sich die Wissenschaft der Existenz von Viren überhaupt bewusst war. Ende des 18. Jahrhunderts fiel dem britischen Arzt Edward Jenner auf, dass Stallmägde, die an den relativ harmlosen Kuhpocken gelitten hatten, von einer deutlich schlimmeren Krankheit verschont blieben – den Pocken. Er wusste zwar nicht, welche Ursachen beide Krankheiten hatten, schloss aber, dass eine Infektion mit Kuhpocken irgendwie vor den Pocken schützen musste. Seinen Überzeugungen folgend, führte er ein Experiment durch, welches demonstrierte, dass sich an Kuhpocken erkrankte Personen keine Pocken mehr einfingen. Der lateinische Name für die unsichtbare Ursache von Kuhpocken war Vaccinia (vom lateinischen Wort für Kuh). Daraus entstand später der Begriff vaccine bzw. Vakzin – Impfstoff. Eine der Grundlagen der modernen Medizin.

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    Die Zahl der Menschen, die durch Impfungen ein längeres, gesünderes und produktiveres Leben geführt haben, ist überhaupt nicht abzuschätzen – liegt aber zweifelsfrei in Milliardenhöhe. Ähnlich hat sich auch die Produktivität der Menschheit gesteigert. Wir können die Entwicklung eines COVID-19-Impfstoffs kaum erwarten und freuen uns darüber, dass auch ein Impfstoff für das Denguefieber in greifbarer Nähe scheint. Aber hält irgendwer mal inne, um der Natur oder dem Vaccinia-Virus dafür zu danken?

    Manche Menschen sehen in der Pandemie die Natur, die zurückschlägt und sich gegen alles wehrt, was ihr angetan wurde und noch immer angetan wird. Aber menschliches Verhalten und die Missachtung der Natur sind die eigentlichen Ursachen. Und während wir mit der Pandemie kämpfen, schreitet der Klimawandel weiter voran. Er schlägt Wellen in allen Ökosystemen und lässt ihr Gleichgewicht kippen, was für viele derzeit noch unbekannte Krankheitserreger vermutlich von Vorteil ist.

    Ein weiser Weg in die Zukunft sähe vor, in den Naturschutz und die Wissenschaft zu investieren und die glorreiche Vielfalt des Lebens zu schätzen, mit dem wir diesen Planeten teilen. Eine gesunde Zukunft für die Menschheit und ein gesunder, artenreicher Planet gehen Hand in Hand.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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