Ökozid: „Mord an der Umwelt“ soll internationale Straftat werden
Immer mehr Menschen fordern, Ökozid als internationales Verbrechen zu ahnden. Sollten Umweltverbrechen wie Völkermord eingestuft werden?
Äcker statt Regenwald: Die Abholzung verschärft die globale Klimakrise.
Flammendes Inferno soweit das Auge reicht. Die Bilder des brennenden Amazonas-Regenwaldes haben in den letzten Jahren weltweit für Entsetzen gesorgt. Kurz nach seinem Amtsantritt im Januar 2019 hatte Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro die Abholzung der Amazonasregenwälder erleichtert. Wenig später brannte es lichterloh. Allein zwischen Januar und August des Jahres gab es mehr als 80.000 Feuer und Brandrodungen – 78 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Das zeigte eine Satellitendaten-Auswertung der brasilianischen Weltraumagentur INPE.
Tropenholz, Bodenschätze, Rinderweiden und Sojaanbau: Es gibt viele Ursachen für die fortschreitende Zerstörung. „Schuld daran ist vor allem die aktuelle Politik der brasilianischen Regierung“, sagt Regenwaldexpertin Elke Mannigel von der Tropenwaldstiftung OroVerde. Sie fördere gezielt die Agrarlobby und großindustrielle Landwirtschaft.
Viele Menschen wollen dem Raubbau an der Natur nicht mehr tatenlos zusehen. Menschen protestieren, Politiker drohen mit Sanktionen. Bolsonaro indes lässt sich von all dem offenbar nicht beeindrucken. Auch, weil es im Völkerrecht bislang kein Mittel gibt, um mächtige Umweltsünder zur Rechenschaft zu ziehen.
Ökozid als fünftes Verbrechen am Internationalen Strafgerichtshof
Derzeit listet das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag vier Verbrechen auf, für die dieser zuständig ist: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Umweltschutzorganisationen wie Stop Ecocide wollen das schnellstmöglich ändern. Die internationale NGO fordert, dem Statut einen fünften Tatbestand hinzuzufügen: den Ökozid, also schwerwiegende Verbrechen an der Umwelt.
Wer vorsätzlich die natürliche Lebenswelt schädige oder sogar vernichte, zerstöre zugleich die Lebensgrundlage der Menschheit. Bislang aber werde dafür in den meisten Teilen der Welt niemand zur Verantwortung gezogen. Das Argument der Aktivisten von Stop Ecocide: Wird Ökozid als internationales Verbrechen eingestuft, könnten einzelne Personen strafrechtlich verfolgt werden.
“Ökozid bedeutet rechtswidrige oder willkürliche Handlungen, mit dem Wissen begangen, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit schwerer [...] Schäden für die Umwelt besteht, die durch diese Handlungen verursacht werden.”
Die Idee findet immer mehr öffentliche Unterstützer. „Es ist höchst wünschenswert, Ökozid als Verbrechen am Internationalen Strafgerichtshof aufzunehmen“, sagt UNO-Generalsekretär António Guterres. Auch Papst Franziskus fordert die Aufnahme des Ökozids als „fünfte Kategorie von Verbrechen gegen den Frieden“. Die legendäre Primatenforscherin und National Geographic-Explorerin Jane Goodall unterstreicht: „Das Konzept des Ökozids ist längst überfällig. Es könnte eine wichtige Veränderung in der Weise herbeiführen, wie Menschen die aktuelle Umweltkrise wahrnehmen – und auf sie reagieren.“
Politische Debatte gewinnt an Fahrt
Nach der Rechtsauffassung der allermeisten Länder sind Natur, Tiere und Pflanzen bislang nichts anderes als Objekte. In einigen Ländern indes ist das heute schon anders. Panama, Ecuador und Kolumbien beispielsweise geben der Natur eigene Rechte, Chile will den Ökozid in die Verfassung schreiben. Der Wald kann dann künftig sein Recht selbst einklagen – durch menschliche Stellvertreter natürlich, die sich seiner annehmen.
Als Vorreiter gilt Bhutan. Das Himalaja-Land hat den Umweltschutz in seine Verfassung geschrieben. Mehr als 60 Prozent der Wälder sind geschützt, das Land hat sogar eine negative CO2-Bilanz. Bhutan hat sich unter anderem dazu verpflichtet, dauerhaft CO2-neutral zu sein.
Galerie: Naturfotograf Christian Ziegler und die Wunderwelt der Tropen
Auch in Europa gewinnt die politische Debatte an Fahrt. Das EU-Parlament etwa empfiehlt den Mitgliedstaaten, die Kriminalisierung von Ökozid vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterstützen. Frankreich hat schon im Juli 2021 den eigenen Straftatbestand des Ökozids geschaffen. Bei einer Verurteilung drohen künftig bis zu zehn Jahre Haft. In anderen EU-Ländern gibt es ähnliche Bestrebungen.
Einen Meilenstein hat das spanische Abgeordnetenhaus gesetzt: Mit großer Mehrheit hat es Europas größte Salzwasserlagune, das Mar Menor, zur juristischen Person erklärt. Als erstes Ökosystem in Europa hat die Lagune damit eigene Rechte. Auch hierzulande tut sich was: In Bayern etwa haben Umweltschützer ein Volksbegehren gestartet, das gleiche Rechte für die Natur einfordert.
Galerie: Abholzung der Regenwälder schreitet voran
Gleiche Rechte für die Natur
Ökozid als internationaler Straftatbestand – könnten Umweltverbrecher auf diese Weise eines Tages tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden wie Völkermörder? Und wie lässt sich das faktisch umsetzen? Um Ökozid in das Rom-Statut des Internationalen Gerichtshofs aufzunehmen, braucht es die Zustimmung von zwei Drittel der 123 Mitgliedsstaaten. Es dürfte Jahre dauern, um ein Gesetz zu erarbeiten, das alle akzeptieren. Außerdem haben bevölkerungsreiche Staaten wie China, Indien, Russland oder die USA das Statut bislang nicht ratifiziert.
Johannes Wesemann will indessen nicht länger warten. Im Oktober 2021 hat der Gründer der Klimaschutzorganisation Allrise eine Klage gegen Brasiliens Präsidenten Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof eingereicht – wegen Verbrechen gegen die Menschheit. Der frühere Österreich-Chef von Uber ist überzeugt: „Bolsonaros Verbrechen ist, ein Ökosystem zu zerstören, das wir fürs Überleben brauchen. Mächtige, die vorsätzlich die Umwelt zerstören, müssen dafür haftbar gemacht werden.“
Allrise will die Umweltzerstörung also mit der Kraft des bereits bestehenden Rechts bekämpfen und sicherstellen, dass Verbrechen an der Natur nicht ohne Strafverfolgung bleiben. Wesemanns Mitstreiter, der Rechtsanwalt Wolfram Proksch, ist guten Mutes: „Dieser Fall ist hoffentlich nur der erste von vielen, um Umweltverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.“