Geheimnisse der Tiefsee: „Unglaubliche Artenvielfalt“
Kein Ort auf dem Planeten ist so wenig erforscht wie die Tiefsee. Meeresbiologin Angelika Brandt über kleine Kreaturen von großer Bedeutung, Forensik in der ewigen Dunkelheit und über vermeintlich ausgestorbene Urzeitwesen.
Der sagenumwobene Riesenkalmar ist das größte wirbellose Tier. Seine Tentakel werden mehr als zehn Meter lang, die Augen können einen Durchmesser von bis zu 40 Zentimetern erreichen.
Prof. Dr. Angelika Brandt zählt zu den renommiertesten Ozeanforschenden. Sie ist Expertin für die Tiefsee, also den Bereich der Meere ab 200 Metern Tiefe. Die deutsche Meeresbiologin nahm bislang an 30 Expeditionen in Tiefsee- und Polarregionen teil, darunter die Jungfernfahrt des Forschungsschiffs „Sonne“ im Jahr 2014.
Mit ihrer Forschung hat sie maßgeblich zum heutigen Verständnis der Tiefseebiologie beigetragen. National Geographic zeichnete sie im Jahr 2007 zum „Adventurer of the Year“ aus. In diesem Sommer wird sie im Rahmen der „Aleutian Biodiversity Studies (AleutBio) Expedition“ wieder mit der „Sonne“ zum östlichen Aleutengraben fahren.
Brandt arbeitet im Direktorium der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt am Main und leitet dort die Abteilung für Marine Zoologie. Außerdem ist sie Professorin für Systematische Zoologie an der Goethe-Universität in Frankfurt.
Meeresbiologin Angelika Brandt auf dem Forschungsschiff "Sonne": Ein so genannter Epibenthosschlitten zur Probenentnahme in der Tiefsee wird mit 11.000 Metern Kabel zu Wasser gelassen.
Frau Brandt, die Tiefsee ist unfassbar groß und noch kaum erforscht. Was wissen wir überhaupt über dieses verborgene Reich?
Schätzungen gehen davon aus, dass wir in der Tiefsee zwischen 50 und 80 Prozent des gesamten Lebens auf unserem Planeten vorfinden. Gleichzeitig nimmt unser Kenntnisstand über das ozeanische Leben unterhalb von 100 Metern Wassertiefe mit jedem weiteren Meter stark ab. Über die Tiefsee liegt nur etwa 0,1 Prozent des gesamten marinen Wissens vor.
Wir wissen also sehr wenig über die Tiefsee. Aber ist das so schlimm?
Das ist ein großes Problem, weil die Meere leiden. Erst vor wenigen Wochen ist auf der UN-Ozeankonferenz in Lissabon ganz klar unterstrichen worden, dass die Ozeane sehr krank sind. Die Vereinten Nationen haben ein kollektives Versagen beim Schutz der Meere und ihrer Biodiversität eingeräumt.
Klimawandel, Tiefsee-Bergbau, Öl- und Gasgewinnung, Schleppnetze sowie Verschmutzung sind die Hauptursachen.
Ja. Wir können aber nur das schützen, was wir kennen. Rund 90 Prozent der Tiefseeorganismen, die wir auf unseren Expeditionen an Deck holen, sind unbekannt.
Galerie: Bizarre Welt der Tiefsee
Welche Tierarten konnten Sie bei ihren Tiefsee-Expeditionen entdecken?
Meist handelt es sich um kleine Krebstiere, Würmer, Muscheln, Schwämme oder Stachelhäuter, die in einer unglaublichen Artenvielfalt auf oder im Meeresboden leben. Für die Wissenschaft und den Menschen haben diese vermeintlich unscheinbaren Organismen eine große Bedeutung.
Was macht eine winzige Assel auf dem Meeresgrund so wichtig?
Die Artenvielfalt dieser winzigen Organismen ist viel größer als beispielsweise die der Meeressäuger oder auch der Fische. Damit sind sie enorm wichtig für die Ozeane. Sie haben eine wichtige Rolle in der Nahrungskette und im Kohlenstoffkreislauf und sind daher im Gesamtsystem von großer Bedeutung.
Kann man also sagen, dass selbst mikroskopisch kleine Organismen in 9.600 Metern Tiefe über den Kohlenstoffkreislauf das Weltklima beeinflussen?
Ja – zumal ihre gesamte Biomasse so groß ist wie zum Beispiel die der Wale. Vieles über die Prozesse wissen wir aber noch gar nicht genau, weil wir eben auch viele dieser Organismen noch gar nicht kennen und ihre ökologischen Ansprüche nicht bekannt sind. Wir wissen aber beispielsweise, dass die Organismen rund 1.000 Jahre brauchen, um eine nur ein Millimeter dünne Sedimentschicht in 4.000 Metern Tiefe zu produzieren. Da kann man sich vorstellen, welche fatalen Auswirkungen etwa der Tiefseebergbau haben könnte, wenn der Meeresboden großflächig umgegraben wird, um Manganknollen zu ernten. Viele Arten würden durch die plötzlich hohe Sedimentation ersticken.
Viele Experten fordern deshalb ein Moratorium für den Tiefseebergbau, also einen Aufschub. Die Wissenschaft solle erst bessere Datengrundlagen liefern, inwiefern der Abbau der Unterwasserwelt schadet. Wie forscht man überhaupt in diesen gewaltigen Tiefen?
In solchen Tiefen können wir nur mit speziellen Gerätesystemen arbeiten, zum Beispiel mit Plankton- oder Multinetzen in der freien Wassersäule, die in unterschiedlichen Tiefenstufen geöffnet und geschlossen werden. Auf diese Weise erhalten wir ein Bild von den Veränderungen in unterschiedlichen Wassertiefen. Am Meeresboden zum Beispiel nutzen wir unter anderem geschleppte Geräte, die Organismen verschiedener Größen sammeln können. Mit verschiedenen Greifersystemen stanzen wir Segmente aus dem Boden, die wir dann an Deck bringen. Außerdem gibt es ferngesteuerte, automatisierte U-Boote und Fahrzeuge auf dem Meeresboden. Bildgebende Verfahren liefern Fotos oder hochkomplexe topografische Aufnahmen.
Für eine aktuelle Tiefsee-Studie haben Sie zwei Milliarden DNA-Sequenzen aus Tiefsee-Bodenschichten aller großen Ozeanbecken analysiert. Das klingt nach viel Arbeit …
Diese so genannte Umweltgenomik gibt uns die Möglichkeit, die biologische Vielfalt der Tiefsee, ihre Verbindung zu den darüber liegenden Wassermassen und den globalen Kohlenstoffkreislauf noch besser zu verstehen. Wir haben dazu Proben vom Meeresboden genommen. Jedes Tier, das jemals über diese Sedimentstücke spaziert oder geschwommen ist, hinterlässt darauf einen genetischen Fußabdruck. Wie betreiben im Prinzip eine Tiefseeforensik, also im Grunde genommen eine kriminalistische Methode. Über die Umwelt-DNA erhalten wir Informationen darüber, wo die Biodiversität am Meeresgrund besonders hoch oder gering ist – oder in der Vergangenheit war, wenn wir Sediment in die Tiefe hinein analysieren. Unsere Daten zeigen, dass fast zwei Drittel der auf dem Tiefseeboden lebenden Organismen keiner bislang bekannten Gruppe zugeordnet werden können.
Ist auch vor der deutschen Küste mit spannenden Entdeckungen zu rechnen?
Im Prinzip kann man überall mit spannenden Entdeckungen rechnen. Je kleiner die Organismen, desto weniger bekannt sind sie. Wir können auch vor unserer eigenen Haustür in der Nord- und Ostsee neue Arten entdecken, nur nicht so häufig wie in der Tiefsee, wo bisher kaum jemand nachgesehen hat.
Galerie: Der Quastenflosser: Ein Fossil taucht auf
Kann es sein, dass in der Tiefe der Meere auch bislang unbekannte große Kreaturen leben?
Auf jeden Fall finden wir in fast allen Meeresregionen mehr als 90 Prozent neue Arten in den Tiefseefängen. Die Entdeckung großer und angeblich ausgestorbener Tiere fasziniert die Menschen natürlich ganz besonders. Ein gutes Beispiel sind die Unterwasseraufnahmen des Quastenflossers Latimeria chalumnae, die der deutsche Biologe Hans Fricke mit seinem Team 1987 erstmals machen konnte. Wie erwähnt sind aber die kleinen, vermeintlich unscheinbaren Arten mindestens genauso bedeutsam – nicht nur für die Wissenschaft, sondern für den gesamten Planeten und damit eben auch für uns. Denn wir brauchen eine reichhaltige Biodiversität für das Wohlergehen der Menschheit.
Dann erscheint es umso wichtiger, diese verborgene Unterwasserwelt besser zu schützen.
Ja. Viele Organisationen und Länder – darunter auch Deutschland – propagieren, dass wir bis 2030 mindestens 30 Prozent der Meeresgebiete unter Naturschutz stellen müssen. Es ist wichtig zu wissen: Wir sind Teil eines komplexen Systems. Nur wenn wir die Meere schützen, schützen wir auch uns selbst. Auch deshalb ist die Meeresforschung so wichtig.